Piratenbraut
Lauer, referiert zur Eröffnung erst einmal die Formalitäten. Ich nutze die Zeit, mir die Runde genauer anzuschauen.
Noch nie habe ich so viele VIP -Piraten aus nächster Nähe gesehen. Hinten sitzt Martin Delius im seriös-grauen Sakko, jener Pirat, der mich unlängst in der Parteizentrale ermutigt hatte, als ehrenamtliche Helferin weiterzumachen. Gleich vor mir hat sich der »Tittenbonus«-Pirat Gerwald Claus-Brunner niedergelassen, heute mal im lila T-Shirt und mit lila Palästinensertuch zur beigen Latzhose. Andere Piraten am Tisch kommen mir auch nach elf Monaten im Landesparlament unbekannt vor. Wolfram Prieß? Der Name wäre mir ohne Google nicht eingefallen.
Inzwischen sind immerhin um die zehn Zuschauer da, nach den Aufnahmegeräten und Notizblöcken zu urteilen, eine ganze Reihe Journalisten.
Zwei neue Praktikanten stellen sich der Fraktion vor und versichern, sie seien »von lauter netten Menschen umgeben«, es sei »eine super Stimmung« und mache »auf jeden Fall viel Spaß«. Ein Abgeordneter kündigt die öffentliche Sprechstunde des Petitionsausschusses in einem Berliner Einkaufscenter an, die Fraktion bespricht die Frage, welcher Pirat ein Märchen bei den Berliner Märchentagen vorlesen würde. Man könnte meinen, es sei an diesem Dienstag nichts von Belang passiert. Dabei ist gerade bei Twitter die Hölle los: Fraktionschef Lauer, der links vor mir am Konferenztisch sitzt und nervös mit dem Fuß wippt, hatte am Vormittag einen Gesetzentwurf zum Urheberrecht, immerhin eines der Kernthemen der Partei, an die Presse gegeben – und das Papier wohl als Entwurf der Piratenfraktion verkauft, obwohl er es offenbar nicht mit den Abgeordnetenkollegen abgesprochen hatte.
Einer von ihnen, Simon Weiß, der drei Meter von Lauer entfernt sitzt, hat vorhin in einem Tweet klargestellt, der Gesetzentwurf sei keiner seiner Fraktion und »insbesondere nicht meiner als medienpolitischer Sprecher«. Nun thematisiert der promovierte Mathematiker das Papier auch im Sitzungssaal 107. Er spricht von einem »Urheberrechtsgesetzentwurf, den wir heute anscheinend veröffentlicht haben«, ringt um die passenden Worte. »Im Nachhinein mit so was umzugehen ist nicht schön«, klagt Weiß. Eigentlich müsse man nun die Pressemitteilung auf der Fraktionsseite richtigstellen und dazuschreiben: »Das stimmt nicht, was hier drinsteht, das ist nicht die Position der Fraktion.«
Der Fraktionschef Christopher Lauer schenkt dem aufgebrachten Kollegen keinen Blick. »Es freut mich natürlich, dass wir uns hier um unsere Außenwirkung Gedanken machen«, sagt er ironisch. Dann legt er nach: Er werde sich als Fraktionschef halt künftig einfach nur noch zu Themen aus seinem persönlichen Fachgebiet äußern. Das sei doch »’ne tolle Sache«, die man aus »dieser Geschichte« lernen könne. »Und wie gesagt, falls ich da jemandem auf den Schlips getreten sein sollte, tut mir leid. Wird so in der Art mit Sicherheit nie mehr vorkommen.« Betretenes Schweigen am Tischkreis.
Es ist mal wieder so weit. Die Piraten streiten ganz transparent über ihre Fraktionsarbeit. Ein paar Journalisten hinten im Saal schreiben fleißig mit. Parlamentsberichterstattung kann ein mühseliges Geschäft sein. Bei anderen Parteien müssen Reporter schon mal stundenlang vor verschlossenen Türen herumlungern, in der Hoffnung, dass ihnen der eine oder andere Politiker auf dem Weg nach draußen ein paar Informationen steckt. Gemessen daran sind die öffentlichen Fraktionssitzungen der Piraten für die Medien ein Geschenk. Wo sonst im Parlamentsbetrieb bekommen Journalisten ihre Geschichten quasi in den Block diktiert?
Gerade appelliert der Abgeordnete Alexander Spies, Mitte fünfzig, Schiebermütze, stattlicher Bauch, an die Vernunft seines Fraktionschefs: »Als Fraktionsvorsitzender musst du dich doch zu allem äußern«, sagt er väterlich zu Lauer. Ein Fraktionschef könne Journalisten doch im Interview nicht mit dem Hinweis abfertigen, er müsse sich erst noch beim zuständigen Kollegen erkundigen. »Werd ich aber in Zukunft so machen«, entgegnet Lauer beleidigt. Im Chat zum Online-Protokoll der Sitzung ruft jemand belustigt nach »Popcorn«.
Die Piraten haben sich zum Zoff vor großem Publikum verdammt. Noch vor einem Jahr wurden sie für ihren Mut zur Öffentlichkeit von Kommentatoren gepriesen – und vom Wähler geliebt. Das an der Bevölkerung vorbeigeplante Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 oder die Geheimdienstpannen um die rechtsextreme Mörderbande
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