Piratenbraut
verlassen? Bei all den Freaks, die diese Partei über die Jahre angelockt hat? Mir erscheint das mehr als naiv.
Die Piratenpartei Deutschland wurde im September 2006 in einem Hacker-Space in Berlin gegründet. Ein nicht unerheblicher Teil ihrer Mitglieder ist im »Chaos Computer Club« organisiert, Europas wichtigstem Hacker-Verein. Gerade Hacker suchen doch gerne mal an der Grenze der Legalität nach Schwachstellen in Sicherheitssystemen – die einen mit der hehren Absicht, das System zu verbessern, die anderen nur zum Spaß, um zu sehen, ob es geht. Die Piratenpartei selbst ist sich dessen durchaus bewusst, sonst hätte sie vor dem Bundesparteitag im April 2012 kaum alle Journalisten gewarnt, dass sie es bei Teilnehmern des Parteitags zum Teil mit erfahrenen ›Hackern‹ zu tun hätten. Versuche, »über die (Funk-)Netzwerkverbindungen in andere Rechner einzudringen«, seien deshalb nicht ausgeschlossen.
Wieso aber sollten Piraten sich von Schlupflöchern im Liquid Feedback fernhalten, wenn sie offensichtlich nicht einmal vor Journalisten-Laptops zurückschreckten?
Es könnte mir egal sein, wäre Liquid Feedback nur ein Demokratie-Spiel und diese Gamification der Politik nur ein Spaß. Aber so ist es nicht. Die Piraten ködern damit politikinteressierte Menschen. Mich zum Beispiel.
Liquid Feedback gilt als das wichtigste Instrument der innerparteilichen Willensbildung oder, wie der Spiegel es formulierte, als »Herzschrittmacher der Partei«. Bei jeder Gelegenheit versichern die Parlamentarier der Piratenpartei, sie wollten, wenn möglich, den Willenserklärungen ihrer Basis folgen – also: den Abstimmungsergebnissen im Liquid Feedback.
In ihrem Grundsatzprogramm versprechen die Piraten, »die Partizipation jedes einzelnen Mitbürgers an der Demokratie zu fördern«. Die Abstimmungssoftware gilt als Instrument gegen die Politikverdrossenheit. Mit Liquid Feedback treiben die Piraten andere Parteien vor sich her. Die FDP hat gerade erst eilig die Abstimmungssoftware »New Democracy« an den Start gebracht – und wurde dafür von Piraten wie Christopher Lauer ausgelacht, der den Liberalen nebenbei vollmundig vorwarf, deren Programm sei »nicht sicher«.
Verfälschte Abstimmungsergebnisse im Liquid Feedback sind aber nicht nur wertlos. Ein manipuliertes Meinungsbild ist schlechter als gar keins. Es gaukelt Mehrheitsverhältnisse vor, die nicht existieren, es kann die Partei in die Irre führen. Und: Es untergräbt das Vertrauen in die Demokratie und deren Instrumente weiter, statt die Bürger zum Mitmachen zu motivieren.
Oben in der Bildschirmecke meines Computers steht noch immer »Pirat111« – und wenn ich nun als Pirat111 durchs Liquid Feedback scrolle, kann ich die ganzen Mitstreiter mit ihren Fantasienamen nicht mehr unbefangen betrachten. Sind Pirat_102, pirat0815, Pirat0815, Pirat123, pirat1965 und Pirat2012 vielleicht ebenfalls »Sockenpuppen«?
Ich habe keine Ahnung, wie viele Mehrfachmitglieder es in der Demokratiesoftware gibt. Aber wie will meine Partei ausschließen, dass bereits Abstimmungen verzerrt wurden?
Es ist Samstagabend kurz vor elf. Ich habe ein Ergebnis erzielt, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Wem soll ich von meinem Nebenaccount berichten? Wem meine Fragen stellen? Und: Wie wird die Partei reagieren?
Ich hoffe natürlich, dass sie nicht versucht, das Problem kleinzureden, oder mir sogar Wahlbetrug vorwirft. Aber eigentlich sollte mir selbst das egal sein. Denn Pirat111 dürfte es nicht geben.
18 »Christopher, das ist tolles Politikgeschwurbel!«
18 »Christopher, das ist tolles Politikgeschwurbel!«
Warum mir ein Wochenende beim Landesparteitag plötzlich doch wieder Lust auf die virtuelle Demokratie macht
Es ist noch nicht einmal Mittag, aber ich wünschte mir wirklich, es gäbe hier irgendwo einen »Logout«-Button. Stattdessen liegt vor mir ein Briefumschlag mit zwei Pappkärtchen: einer gelben Karte für die Ja-Stimmen und einer blassroten für die Nein-Stimmen. Eins der beiden Pappkärtchen soll ich gleich in die Luft strecken. Aber welches? Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich einfach gehen und die anderen Piraten, die um mich herum an langen Tischreihen sitzen, mit dieser Frage alleine lassen. Ich kenne solche Fluchtgedanken inzwischen schon von mir. Ganz ähnlich fühlt es sich an, wenn ich mich zu Hause im Liquid Feedback durch die Anträge klicke.
Es ist Tag zwei des Landesparteitags. Nach den Vorstandswahlen gestern steht heute Programmarbeit auf der
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