Piratenbraut
die Mitgliederzahl explodiert, Abgeordnete der Partei sitzen in vier Landesparlamenten, und weil alle möglichen Parlamentarier, Funktionsträger, Referenten, Arbeitsgruppen und leidenschaftlichen Einzelkämpfer permanent im Namen der Transparenz großzügig alle möglichen Informationen und Desinformationen streuen, wird die Parteiarbeit selbst für erfahrene Piraten mehr und mehr zu einem kaum durchschaubaren Dickicht.
»Alle Informationen sind unmittelbar und nachvollziehbar zu veröffentlichen«, lautete eine der zentralen Transparenzforderungen im Wahlprogramm der Berliner Piraten 2011. Ein Jahr später stellte Michael Hartung, Sprecher des Orga-Squads, auf der Hauptmailingliste der Berliner Piraten ernüchtert fest: »Das ist genau die Tragik der Partei: Alles ist wahnsinnig transparent, aber keiner kriegt was mit.«
Als der ehemalige Berliner Piratenchef Gerhard Anger unlängst seine erneute Kandidatur für den Landesvorsitz bekannt gab, versprach er, sich des Problemthemas Transparenz anzunehmen. Natürlich könne die Partei einfach »weitermachen wie bisher – twittern, Mailinglisten benutzen, podcasten, Blogs schreiben, Dinge im Wiki verstecken«, mahnte er. »Und wir können weiter glauben, dass uns das zu einer transparenten Organisation macht.« Damit aber verkenne die Partei die immensen »praktischen Probleme, die durch den derzeit fehlenden Überblick entstehen«.
Was er so auflistete, kam auch mir spontan bekannt vor: Piraten, die sich engagieren wollten, wüssten oft nicht wo und wie. Arbeit werde entweder mehrfach oder gar nicht gemacht. Parteimitglieder erführen von den Projekten anderer Piraten oft erst aus der Presse. Und: »Wir halten uns für eine unglaublich transparente Organisation, sind es aber nur in Ansätzen.« Gerhard Anger, Geschäftsführer einer Softwareentwicklungsfirma, hat den Berliner Piraten ein Angebot gemacht. Er will einen neuen Transparenz-Vorstoß im Landesverband anschieben. Ein Softwareprojekt, was sonst. Alle gesammelten und aufbereiteten Daten sollen in eine »OpenData-basierte Software für OpenGovernment« eingespeist und dort laufend aktualisiert werden.
Auch wenn ich höchstens die Hälfte verstehe, klingt das natürlich erst einmal gut: Informationen sollen systematischer gesammelt, aufbereitet, aktualisiert werden. Nur eines kann ich mir trotzdem nicht vorstellen: wie dieses Programm das taktische Verhältnis der Parteimitglieder zur eigenen Transparenz verarbeiten soll.
Als der Sitzungsleiter an diesem Dienstag im Raum 107 nach 43 Minuten das Ende der 39. Fraktionssitzung verkündet, weiß ich: Es herrscht mal wieder dicke Luft in der Piratenfraktion. Aber ich habe mitnichten verstanden, was tatsächlich gelaufen ist. Hatte wirklich monatelang keiner der 14 anderen Abgeordneten mitbekommen, dass Fraktionschef Christopher Lauer an einem Gesetzentwurf zum Kernthema Urheberrecht saß? Und wieso hat der ansonsten so engagierte Fraktionskollege Martin Delius heute kein Wort zu diesem Streit gesagt? Die Fraktionssitzung der Piraten war öffentlich – damit war sie transparent. Trotzdem lässt sie mich ratlos zurück.
Am Tag nach meinem Besuch im Abgeordnetenhaus stellt Martin Delius, wie so oft, einen frischen Podcast über seine Parlamentsarbeit ins Netz. Neugierig klicke ich die Sounddatei an, ich will endlich wissen, wie sich einer der prominentesten Berliner Piraten in dem Urheberrechtsstreit positioniert, über den die Medien inzwischen rauf und runter berichten. Delius’ Lagebericht hört sich ein wenig so an, als lese er aus seinem Terminkalender vor. Er listet auf, dass er einen Kollegen im Kuratorium des Lette-Vereins vertreten habe, für ein Fotoshooting auf dem Dach des Parlaments gewesen sei und eine unglaubliche Zahl von Interviews absolviert habe. Eher nebenbei protokolliert er: »Fraktionssitzung war dann auch noch um 15 Uhr, die war relativ kurz, aber dafür umso interessanter.« Mehr nicht.
Ich sitze daheim vor meinem Laptop und frage mich: Wofür macht er diesen Podcast? Wenn die Sendung dazu beitragen soll, seine politische Arbeit nachvollziehbarer zu machen, dann würden mich andere Dinge interessieren: Seit wann wusste er von der Urheberrechtsinitiative des Fraktionschefs? Fand er es eine gute oder eine schlechte Idee, dieses Papier im Namen der Fraktion herauszugeben?
Und Christopher Lauer? Auch er fabriziert regelmäßig Folgen der Hörsendung »Lauer informiert«. Da wäre es interessant zu erfahren, wie er diese Fraktionssitzung
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