Piratenbraut
ja diese Debatte weiter verlängern, obwohl ich sie längst unerträglich finde.
Ich bleibe lieber ganz hinten auf meinem Stuhl und staune über Christopher Lauers Gespür für die Befindlichkeiten in dieser Partei. Jene Piraten, die sich vor einer Stunde noch über den Fraktionsantrag empört haben, klingen am Saalmikrofon plötzlich versöhnlich. »Christopher, das ist tolles politisches Geschwurbel«, versichert ein Pirat aus dem Haushalts-Squad mit kumpelhaftem Lachen. »Aber es ist auch unser Geschwurbel und deshalb muss ich sagen: Ich find’s eigentlich ganz gut.« Szenenapplaus im Saal. Dann hat der Pirat noch eine Frage: Wenn der Parteitag diesen Antrag nun beschließe, was heiße das eigentlich konkret für den Nachtragshaushalt? Danke. Damit hat sich meine Wortmeldung ohnehin erledigt.
Christopher Lauer grinst verschmitzt, als habe er nur auf diesen Einwand gewartet. »Das ist ja das Tolle!«, ruft er mit erhobenem Zeigefinger und führt aus, dass der neue Antrag ein Ja zum Nachtragshaushalt an verschiedene Bedingungen knüpfe. Er hätte auch sagen können: Sein Antrag umschifft die entscheidende Frage zugunsten der politischen Mehrheitsfähigkeit. Diese Strategie kennt man von anderen Parteien, aber Piraten wie Lauer sind offensichtlich auch schon so weit.
Die Basis darf noch ein paar kleine Änderungswünsche anbringen. Christopher Lauer gibt sich großzügig, er scheint zu wissen, er hat die Partei jetzt in der Hand. »Psst«, flüstert er mit theatralischen Armbewegungen ins Mikrofon. »Es tut immer ein bisschen weh, kurz davor, aber das Baby ist gleich da.« Vereinzelte Lacher im Saal. »Oh«, stöhnt Lauer, »ihr seid so gut!«
Zeit für die Abstimmung. Ich hebe meine rote Nein-Karte in die Höhe und sehe ringsherum fast ausschließlich Gelb. Bemerkenswert, was man mit »Politikgeschwurbel« erreichen kann! Es sieht ziemlich schlecht für meine Position aus, ein Gefühl, an das ich mich auch erst noch gewöhnen muss. Der Antrag von Christopher Lauer habe »eine überwältigende Mehrheit« bekommen, verkündet der Versammlungsleiter. Johlen und Applaus. Vorne am Mikrofon steckt Christopher Lauer seine gelbe Ja-Karte in die Sakko-Tasche, dann lacht er überdreht los und ruft: »Vielen, vielen lieben Dank!« Das »komplette Politikgeschwurbel« mit der Kennziffer 0X35 ist also beschlossene Sache.
Wenig später meldet die Nachrichtenagentur dpa : »Die Berliner Piratenfraktion hat sich die Unterstützung der Mitglieder der Piratenpartei gesichert, dem Nachtragshaushalt zum Flughafen-Desaster im Abgeordnetenhaus zustimmen zu können.« Nanu, das hatte ich vorhin aber etwas anders verstanden. Und wo bitte ist der Hinweis geblieben, dass Christopher Lauer diesen vorhin mit großer Mehrheit beschlossenen Antrag selbst als Geschwurbel eingestuft hatte?
Es ist jetzt 14 Uhr. Draußen strahlt die Septembersonne, womöglich wird es keinen so spätsommerlich warmen Tag mehr geben in diesem Jahr. Aber die Landesmitgliederversammlung ist noch längst nicht zu Ende. Im Gegenteil: Die Programmarbeit geht gerade erst richtig los.
Vorne am Mikrofon stellt Jan Hemme, dieser vom Spiegel bewunderte Berliner Basis-Pirat, bereits den nächsten Antrag vor. Das Papier trägt den sperrigen Titel »Berliner Stromnetz ab 01.2015: Rekommunalisierung nach dem Konzept des Berliner Energietisches«. Ich habe keine Ahnung, wie es um das Stromnetz in der Hauptstadt bestellt ist, das Konzept des Energietisches ist mir unbekannt. Mein Magen knurrt. Ich hole mir erst mal einen Teller veganes Chili draußen an der Gulaschkanone und setze mich auf eine Treppe am Rande der Halle. Als die Versammlungsleitung zur Abstimmung aufruft, merke ich: Meine Stimmkarten liegen hinten an meinem Platz auf dem Tisch. Zu spät – aber was soll’s: Insgeheim bin ich froh, mich um die Entscheidung drücken zu können. Denn ich weiß ja gar nicht, ob ich die Rekommunalisierung nach dem Konzept des Berliner Energietisches unterstützen möchte.
Bis ich meinen Teller zurück auf den Geschirrwagen getragen habe, sind auch die Anträge P 024 »Einführung der Doppik zur Verbesserung der Übersichtlichkeit und Information des Haushalts« und P 009 »Die Piratenpartei lehnt undemokratische Wahlen zur IHK -Vollversammlung ab« ohne mich beschlossen. Ich hole mir noch eine Cola an der Bar und riskiere dafür ein paar irritierte Blicke der umstehenden Club-Mate-Trinker.
Pünktlich zum »Positionspapier Medienpolitik« mit der Kennziffer P037 aber bin ich
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