Piratenbraut
schaltet sich noch einmal ein. Die Basis solle sich doch bitte mal der Verantwortung bewusst werden, sagt er: »Wenn wir die Regierung wären, könnten wir in dieser verkackten Situation damit leben, dass die Flughafengesellschaft insolvent geht?«
Nicht, dass ich mich nach vier Monaten in dieser Partei noch über ein Wort wie »verkackt« wundern würde. Solche Vokabeln sind unter Piraten so selbstverständlich wie »geil« oder »cool«. Aber ich halte noch immer ratlos den Briefumschlag mit meinen Stimmkarten in der Hand. Die Berliner Piraten sind also in den Niederungen der Realpolitik angekommen. Und ich soll ihnen nun mit meiner Stimme etwas von der Last ihrer Verantwortung abnehmen.
Vorne ist gerade Fraktionschef Christopher Lauer ans Mikrofon getreten. Kein Pirat ist so präsent in den Medien wie dieser 28 Jahre alte Mann in Jeans und grauem Sakko – und kein anderer Pirat annähernd so verschrien an der Parteibasis. Wenn in der Crew Prometheus jemand einen Satz mit »Der Lauer hat ...« beginnt, was gar nicht selten passiert, dann ahne ich inzwischen: Das wird wohl keine Anekdote mit Happy End.
Christopher Lauer, der Anfang 2012 öffentlich machte, dass er am Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom leide (»Ich habe ADHS – und das ist auch gut so«), gilt als machtbewusster Selbstdarsteller und rücksichtslos auf die eigene Publicity bedacht. Seine Kritiker werfen ihm vor, er schere sich nicht um das Piraten-Motto »Themen statt Köpfe« und stoße mit egozentrischen Alleingängen regelmäßig Parteifreunde vor den Kopf.
Ich finde diese Haltung schizophren. Christopher Lauer ist extrem schlagfertig, mit großem Redetalent und mindestens ebenso großem Machtinstinkt ausgestattet. Eine seiner Grundsatzreden im Berliner Abgeordnetenhaus wurde bei YouTube inzwischen mehr als 230.000 Mal abgerufen – über solche Klickzahlen freuen sich manche Popstars. Andere Parteien wären dankbar, wenn sie zwischen Hunderten glatten Langweilern ein Talent wie ihn hätten.
Und Christopher Lauer spricht mir gerade aus der Seele. Ob die Partei wirklich über diesen Antrag zum Nachtragshaushalt abstimmen wolle, fragt er in den Saal. Sollten wir uns nicht lieber eine cleverere Lösung für dieses offensichtlich ziemlich komplexe Problem überlegen? Lauer wedelt ziellos mit den Händen, deutet auf die Leinwand hinter sich, auf die der Beamer seit einer halben Stunde den Antrag von Heiko Herberg wirft. Dann ergänzt er: »Das ist jetzt nur ein Input. Ich hab ad hoc auch keine Lösung.«
Hinter dem Saalmikrofon stehen immer noch Piraten in einer langen Schlange, offensichtlich sind alle überzeugt, weitere unverzichtbare Argumente in die Flughafendebatte einbringen zu können. Viele Wortmeldungen sind so unsachlich und selbstverliebt, dass sie mich kribbelig und müde zugleich machen.
Es vergehen 43 Minuten, bis Christopher Lauer nach einer unübersichtlichen Zahl von Diskussionsbeiträgen noch einmal ans Mikrofon tritt. Diesmal balanciert er seinen silbrigen Laptop auf den Händen und verkündet trocken: »Jetzt ist die Verwirrung komplett. Ich hab hier ’nen schönen Alternativantrag in komplettem Politikgeschwurbel.«
Für diese schonungslos ehrlichen Selbsteinschätzungen liebe ich die Piraten ja. Andererseits: Dies hier ist nicht »Hart aber fair« oder »Günther Jauch«, sondern ein Landesparteitag. Erwartet dieser Pirat allen Ernstes, dass ich gleich meine gelbe Ja-Karte für »komplettes Politikgeschwurbel« hebe?
Der Alternativantrag, den Christopher Lauer auf die Schnelle zusammengeschwurbelt hat, beginnt staatstragend: »Die Piratenpartei Berlin ist sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und unterstützt daher eine Fertigstellung des Flughafens Berlin Brandenburg.« Ähnlich luftig geht es weiter. Ich überfliege den Antrag mehrmals, denn ich suche das ursprüngliche Thema, also die Frage, ob die Piratenfraktion den Nachtragshaushalt in Höhe von 440 Millionen Euro absegnen soll. Ich finde sie nicht mehr. Ich frage Bastian, meinen Tischnachbarn aus der Crew Prometheus. Er weiß auch keine Antwort. Ich könne doch einfach nach vorne gehen und fragen, schlägt Bastian vor. Soll ich?
Hinter dem Saalmikrofon steht noch immer ein knappes Dutzend Piraten an. Natürlich ist ein Parteitag unter anderem für solche Aussprachen da. Womöglich fänden einige im Saal es sogar toll, wenn endlich mal wieder eine Frau das Wort ergreifen würde. Aber ich entscheide mich dagegen. Denn sonst würde ich
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