Piratenbraut
sein. Die Piraten würden sich ja zum Gespött machen!
So rief ich also die Mail des Parteivorstandes mit der zweiten Liquid-Feedback-Einladung auf und klickte den Link an, um mir damit den zweiten Einladungsschlüssel abzuholen. Genau wie beim letzten Mal forderte die Software mich auf, meinen persönlichen Referenzschlüssel und meinen Einladungscode einzutippen. Beide wirkten auf mich mit den vielen Zahlen und kryptischen Konsonantenfolgen ausgesprochen ausgeklügelt und supersicher.
Bei jedem Klick erwartete ich, dass sich ein Fensterchen mit einer Fehlermeldung öffnen würde: »Sorry, deine Akkreditierung wurde abgebrochen.« Oder: »Du bist bereits als Nutzer registriert. Ein Admin wird sich bei dir melden.« Nichts dergleichen passierte.
Stattdessen wurde ich gebeten, mein Nutzerprofil auszufüllen. Ohne lange nachzudenken, wählte ich als Benutzernamen Pirat111. Wenig später lag in meinem E-Mail-Postfach eine Nachricht, in der ich aufgefordert wurde, den neuen Account zu bestätigen. Seither ist Pirat111, genau wie Astrid Geisler, offizielles Liquid-Feedback-Mitglied.
Ich sitze am Küchentisch und staune: Die Voten in diesem angeblich so sicheren Programm sind also problemlos manipulierbar. Ich habe es auf Anhieb geschafft, mir einen zweiten, funktionsfähigen Account zuzulegen – eine »Sockenpuppe«, wie es im Netz heißt. Und das Einzige, was ich dafür tun musste: einen Warnhinweis übersehen.
Theoretisch kann ich ab sofort sämtliche Abstimmungen im Liquid Feedback verfälschen. Ich könnte meine eigenen Programmanträge zur Familienpolitik bejubeln und meinen programmatischen Gegenspielern einheizen – also Meinungsbilder manipulieren. Natürlich wird Pirat111 all das unterlassen, er wird im Liquid Feedback tatenlos zuschauen. Seine schiere Existenz ist schlimm genug.
Ich rufe im Internet noch einmal das Welt -Interview mit dem Berliner Fraktionschef Christopher Lauer auf, das zwischenzeitlich meine Zweifel an Liquid Feedback so erfolgreich ausgeräumt hatte. Wer Meinungsbildung über das Internet organisieren wolle, müsse »darauf achten, dass jedes Mitglied einer geschlossenen Gruppe auch nur einen Account bekommen kann«, hatte Lauer darin vor drei Wochen erläutert. »Ansonsten richtet sich eine Person 50 Accounts unter verschiedenen Namen ein und verfälscht damit das Ergebnis. Wir nennen das Sockenpuppen.« Für mich las sich das, als sei diese Katastrophe zumindest in meiner Partei ausgeschlossen. Denn der prominente Pirat versicherte in dem Gespräch, die Piratenpartei habe »Sicherheitsaudits« gemacht und »Fehler ausgemerzt«, was alles »wahnsinnig viel Arbeit« gewesen sei. Und er beteuerte: »Wir können schon mal sagen, dass unser System technisch nicht manipulierbar ist.«
Vor drei Wochen noch hörte sich dieser Zeitungstext für mich wundervoll beruhigend an. Jetzt aber frage ich mich, ob ich Lauers Botschaft womöglich missverstanden hatte und er eigentlich sagen wollte: Liquid Feedback ist sogar ohne technische Tricks manipulierbar.
Lauers Ausführungen lassen sich schließlich auch wie eine typische Politiker-Antwort lesen, wie ein »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort ...« wider besseres Wissen. Zumal mir gerade jetzt auffällt, was Lauer am Ende des Gesprächs nebenbei auch noch andeutet. Er sagt: »Das einzige Problem bei uns ist, ob hinter jedem Account auch tatsächlich ein Parteimitglied steckt. Das kritisiere ich bei Liquid Feedback. Daran arbeiten wir.«
Weit vorangeschritten sind diese Arbeiten aber wohl noch nicht, wie Pirat111 beweist.
Mit einem Mal klingt für mich auch die E-Mail des Parteivorstands ganz anders, mit der mir der zweite Liquid-Feedback-Zugangscode übermittelt worden war. Diese E-Mail enthielt nämlich eine Warnung:
»Wichtiger Hinweis: Solltest du bereits über einen Zugang zur Bundesinstanz von Liquid Feedback verfügen oder keinen Accountwechsel/Ersatzaccount beantragt haben, dann hast du diese Einladung irrtümlich erhalten. In diesem Fall solltest du den Vorstand per Mail unverzüglich darüber in Kenntnis setzen und darfst diesen neuen Zugang keinesfalls aktivieren.«
Auch dieser Hinweis liest sich für mich plötzlich, als sei der Parteiführung das Problem bekannt. Glaubt sie wirklich, dass alle Parteimitglieder ihre Ermahnung sehen, ernst nehmen und der Versuchung widerstehen, den Zugang nicht doch zu aktivieren? Will sich die Partei etwa bei ihrem vielleicht wichtigsten Werkzeug nur auf die moralische Integrität ihrer Mitglieder
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