Piratenbraut
wieder am Platz. Medienpolitik – das könnte ja etwas für mich als Journalistin sein. Doch als die Versammlungsleitung zur Abstimmung ruft, habe ich nicht einmal die Knackpunkte des Papiers erkannt. Ich entscheide kurzerhand aus dem Bauch heraus. Schnell die gelbe Ja-Karte in die Luft! Denn irgendwie kommt mir dieser Simon Weiß, ein promovierter Mathematiker aus dem Abgeordnetenhaus, der sich unlängst mit Christopher Lauer in der Fraktionssitzung wegen dessen Alleingang beim Urheberrecht gestritten hatte, vergleichsweise seriös vor. Zumindest gemessen am Parteidurchschnitt.
Mitentscheiden, ohne es wirklich zu können – ein schönes Gefühl ist das nicht. Ich habe diese Veranstaltung unterschätzt. Nachdem Denis, der Kapitän der Crew Prometheus, zum vergangenen Treffen im »Caminetto« für jeden eine Kopie der Wahl- und Geschäftsordnung und eine Liste aller Vorstandskandidaten mitgebracht hatte, fühlte ich mich gewappnet. Zumal wir ja auch gemeinsam durchgesprochen hatten, welche Piraten wir uns gut im Landesvorstand vorstellen könnten und was die idiotischsten Programmanträge für den Parteitag sein dürften. Nun stelle ich fest, dass ich mich eigentlich eine Woche lang hätte vorbereiten müssen. Aber: Macht das irgendjemand?
Anders als ich noch vor Kurzem dachte, sind diese Abstimmungen im Real Life mitnichten leichter als im Liquid Feedback. Sie haben dafür einen zusätzlichen Nachteil: Ich sitze an einem prächtigen Septembertag in einer Veranstaltungshalle fest und muss mir seit Stunden nicht besonders erhellende Kurzreferate meiner Parteifreunde anhören. Soll ich Bundeswehrwerbung in Schulen ablehnen? Radfahrstreifen gegenüber Fahrradwegen bevorzugen? Oder mehr Transparenz vom Europäischen Gouverneursrat verlangen?
Ich gehe erst einmal nach draußen und rufe meinen Freund an. Als ich wieder nach drinnen komme, wird ein Antrag mit dem Titel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« debattiert, dessen Leitsatz auch ziemlich perfekt verschwurbelt klingt: »Die Reduzierung und Überwindung von Gewalt erfordern zunehmend eine Entfaltung vielfältiger Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung.« Ich überfliege staunend die Begründung. Darin erklärt die Antragstellerin, sie verstehe »Friedenslogik als eine Methode wissenschaftlichen und politischen Denkens« und wolle »erstens zeigen, dass sich ein friedenslogisches Vorgehen von einem sicherheitslogischen Vorgehen tatsächlich unterscheidet und dass man zu unterschiedlichen praktisch-politischen Schlussfolgerungen gelangt, wenn man Friedenslogik konkret anwendet«.
Das Zweitens spare ich mir. Draußen auf dem gepflasterten Hof dieser Veranstaltungshalle stehen inzwischen auffällig viele Piraten in der Nachmittagssonne herum, denen das Verhältnis von Friedens- und Sicherheitslogik wohl auch nicht so wahnsinnig wichtig erscheint.
Später am Abend, die Kinder schlafen schon, klicke ich daheim am Laptop noch einmal den Live-Stream vom Landesparteitag an. Zu meiner Überraschung ist er noch aktiv, obwohl die Veranstaltung vor einer halben Stunde mit dem Tagesordnungspunkt »Verabschiedung und Knuddeln« hätte enden sollen. Da können einige Piraten wohl gar nicht genug kriegen! Ich weiß nicht, ob ich sie für ihre Ausdauer bewundern oder bedauern soll.
Vorhin hat eine Mitarbeiterin der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus einen Antrag vorgestellt. Er trägt den fürchterlich unverschwurbelten Titel »Geschäftsordnung für Plattformen zur Willensbildung lt. § 11 der Satzung der Piratenpartei Deutschland Berlin«, und für einen kurzen Moment bin ich sehr zufrieden, daheim am Küchentisch zu sitzen und nicht mehr in dieser Veranstaltungshalle am anderen Ende der Stadt – bis ich merke, worum es gerade drüben in der »Universal Hall« geht. Hinter dem Antrag mit dem arglosen Titel verbirgt sich einer der leidenschaftlichsten Richtungsstreits in der Partei: Sollen die Piraten weiterhin unter Pseudonym am Liquid Feedback teilnehmen dürfen oder künftig nur noch mit ihrem vollem Namen? Oder anders gefragt: Hat der Schutz der Privatsphäre, den ein Pseudonym bietet, bei Meinungsäußerungen im Liquid Feedback Vorrang vor der Nachvollziehbarkeit der Meinungsbilder mittels Klarnamen? Nicht zuletzt wegen meines Zweitaccounts Pirat111 interessiert diese Frage auch mich. Aber warum wird dieses brisante Thema am Sonntagabend ausgerechnet um kurz nach halb neun diskutiert, als der Parteitag eigentlich schon hätte beendet sein sollen und nur noch die
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