Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)
Als die deutsche Wehrmacht zurückzuweichen begann, als sich ihre Siege in notorische Niederlagen verwandelten und sich die Illusion des großen Führers als gräuelhafte Schnapsidee entpuppte, als klar wurde, dass der Tod ein Österreicher ist, der einen kleinen schwarzen Schnurbart trägt, suchte der Krieg auch Pribbernow heim.
Walter, wie Friederike ihren Sohn genannt hatte, war fünf Jahre alt, als die polnische Armee in Pribbernow Einzug hielt und kurzerhand das Haus der Seißlers annektierte. Friederikes Mutter, die sich weigerte, das eigene Heim zu verlassen, wurde in den Arm geschossen. Nun nahm die Familie in einer alten Scheune Quartier. Friederikes Vater stand in der Nacht am Feldrain und schaute auf den langen Treck der Flüchtlinge, die am Horizont gen Westen zogen. Ein Nachbar gesellte sich zu ihm.
„Wohin gehen all diese Menschen?”, fragte der Nachbar.
Viktor Seißler schaute ihn an. „Nach Berlin, den Endsieg feiern.”
Der polnische Offizier, der es sich im Haus der Seißlers bequem gemacht hatte, ordnete an, dass Friederike ihm den Haushalt führte. War er betrunken genug, kletterte er nachts zu ihr ins Bett und bestieg sie. Friederike wurde abermals schwanger.
Wer Mitglied der NSDAP gewesen war, fiel den Erschießungen und Racheakten zum Opfer. Den Frauen aus Pribbernow wurde befohlen, die Toten zu einem Haufen zu stapeln. Dann wurden die Leichen verbrannt. Auch der Leichnam des Försters Henning Täler befand sich darunter.
Plötzlich aber waren die polnischen Soldaten verschwunden. Sie hatten neue Order bekommen und ließen den Ort verwüstet zurück. Die Seißlers zogen zurück in ihr Haus, und Friederike gebar einen weiteren Sohn. Er wurde Wilhelm genannt.
Im Frühjahr 1944, von der Ostsee her donnerten die Kanonen, marschierten die Russen in Pribbernow ein. Friederike befand sich mit ihrer Schwester auf dem Feld, als sie abgeholt wurden. „Dawei, dawei!”, schrie der russische Soldat und hielt das Maschinengewehr auf die jungen Frauen gerichtet.
Sie wurden fortgebracht, zu einer Herde Kühe, bei der bereits andere Frauen aufgereiht standen. Monate sollten vergehen, ehe Friederike und ihre Schwester nach Pribbernow zurückkehren konnten. Sie waren, wie die anderen, ausgesucht worden, die Kühe in südliche Richtung zu treiben. Eine Woche verging, eine zweite Woche verstrich, und noch immer begleiteten die Frauen die Herde, trieben sie zwischen den feindlichen Linien hindurch, beständig in südliche Richtung. In Sundomierz wurden Kühe und Frauen in Viehwaggons verladen. Es ging das Gerücht, der Transport ginge in die Ukraine. Zu essen bekamen die Frauen Brot und manchmal auch Rüben. Von der Milch der Kühe zu trinken, war ihnen bei Strafe verboten. Wenn ihre Menstruation einsetzte, rissen sie Fetzen von ihren Kleidern, die sie nun schon seit Wochen auf den Körpern trugen. Sie stanken und durften den Zug nicht verlassen. Ihre Notdurft verrichteten sie wie die Kühe in den Waggons. Das Vieh erkrankte und starb, Schwären und Entzündungen machten den Frauen zu schaffen, und weiter und weiter fuhr der Zug sie nach Süden, fort von Pribbernow, fort von ihren Familien und Kindern. Einmal bombardierten Flieger den Zug, ein anderes Mal stand er drei Tage still im Nirgendwo, und es hatte den Anschein, man habe die darin befindlichen Frauen und Tiere vergessen. Aber die Türen der Waggons waren verschlossen, sie kamen nicht raus, Hunger und Durst setzten ihnen zu und die immerwährende Angst vor dem Tod, vor der Ungewissheit, wie dieser Alptraum ende.
Zwei Monate später stoppte der Zug in einem unbekannten Nest in der Ukraine. Von den Kühen hatten nicht allzu viele den Transport überlebt. Bei den Frauen war die Quote auch nicht viel höher. Man sagte ihnen, dass sie jetzt nach Hause gehen könnten, aber Pribbernow war über zweitausend Kilometer entfernt. Man gab ihnen keine Kleider (obwohl nachts bereits der Frost den Boden mit Reif überzog), kein Essen, keinen Passierschein. Man sagte ihnen einfach nur: „Geht!”
So marschierten sie los, querten die vom Krieg verwüsteten Landstriche, stahlen, um am Leben zu bleiben, wurden mehr als einmal ertappt und gefangengenommen, flohen und marschierten erneut. Sechs Monate währte ihre Odyssee. Als sie Pribbernow an einem Dienstagmorgen erreichten, fanden sie die Ortschaft verlassen. Die Bevölkerung war gen Westen geflohen oder nach Kolberg, wo einzelne Familien und Sippschaften hofften, auf eines der deutschen Schiffe zu gelangen und
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