Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Tunneldecken höher, wie die Alten zu sagen pflegten.
Eine Schusswaffe besaß der Alte nicht. Leider.
Der Blick seiner blinden Augen haftete an der Decke. »Willst du es dir nicht doch anders überlegen?«
Ich habe mich schon so an seine Marotten gewöhnt, dachte Iwan. Er wird mir fehlen.
»Du meinst wegen dem AKW?« Iwan schüttelte den Kopf. Der Sturkopf ließ einfach nicht locker. »Tut mir leid. Keine Chance.«
»Wenn du es dir anders überlegst«, entgegnete der Blinde, »und ich bin mir sicher, dass das früher oder später passieren wird – vergiss nicht: Du musst in Block 3. Kannst du dir das merken? Und noch etwas: Der direkteste Weg ist nicht immer der kürzeste. Darüber kannst du unterwegs nachdenken. Pass auf dich auf. Und jetzt setzen wir uns noch kurz, bevor du aufbrichst.«
Sie setzten sich hin und schwiegen eine Weile.
»Viel Glück bei deiner Expedition, Digger«, sagte der Alte schließlich.
Wenn man einundfünfzig ist, kann man schon mal über den Tod nachdenken.
»Du hast uns verraten, Enigma«, sagte einer der Schatten.
Der Alte konnte ihn nicht sehen, doch er wusste, dass dies nicht der Schatten eines Menschen war.
»Warum hast du ihm davon erzählt?«, fuhr der Schatten fort.
»Er ist ein Taugenichts«, erwiderte der Alte. »Was kann er schon ausrichten?«
Schweigen.
»Ich glaube, du versuchst uns hinters Licht zu führen. Wir werden ihn aufhalten.«
Der Alte wich zurück und erstarrte. Er spürte, wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. Diese Drohung musste er ernst nehmen. Sie waren zu allem fähig. Als die Schatten zum ersten Mal aufgetaucht waren, hatte er noch gedacht, er sei verrückt geworden. Das hätte alles erklärt. Doch inzwischen glaubte er nicht mehr daran.
Er wollte etwas erwidern, doch plötzlich war da wieder dieses Geräusch: Tsing!
Als würde eine Gitarrensaite reißen.
Jetzt ging es los.
Wenn er nicht blind gewesen wäre, hätte er die Augen zugemacht, um das nicht sehen zu müssen. Doch sogar er konnte es sehen, dank seiner Vorstellungskraft, die er in diesem Augenblick verfluchte.
An der Wand bildeten sich stinkende Eiterblasen und Krebsgeschwüre. Monströse, pulsierende Venen traten hervor. Die ganze Wand wölbte sich unter einem extremen inneren Druck. Dann schwollen die Blasen immer mehr an, wie bei einer fürchterlichen Brandwunde, sie wuchsen und es wurden immer mehr.
Der Alte wartete ab.
Es wusste, dass es unausweichlich war. Das hier war ihr Territorium.
Die Blasen begannen zu platzen. Dahinter schauten halb Gesichter, halb Fratzen hervor, die von entsetzlichen Wunden entstellt waren. Abgebissene Ohren, herausgerissene Nasenflügel, zerfetzte Wangen. Eigentlich hatten sie nichts Menschliches, doch der menschliche Verstand mühte sich unwillkürlich, irgendwelche bekannten Formen zu erkennen.
Hunderte schwarzer, ausdrucksloser Augen waren nun auf Enigma gerichtet.
»Um deinen Fehler auszumerzen, müssen wir den Dämon aussenden. Doch zuerst wird er sich um dich kümmern.«
»Schert euch zum Teufel«, befahl der Alte und richtete sich zu ganzer Größe auf. »Noch habe ich nicht ins Gras gebissen. Wenn es so weit ist, dann …«
Er zuckte zusammen. Da war noch jemand.
Die Tür quietschte.
Aus der Dunkelheit trat eine kantige, riesenhafte Gestalt hervor und baute sich vor dem alten Digger auf. Die Haut dieses Menschen, wenn es denn einer war, schimmerte grau.
Enigma konnte hören, wie die Luft rasselnd durch die Lungen dieser Kreatur strömte und wie stinkender, verbrauchter Atem pfeifend aus ihnen entwich. Er vernahm sogar das Pulsieren des Bluts unter dieser grauen Haut, die hart und glatt wie Metall war. Er spürte, dass die Kreatur ihn anstarrte.
Die Bestie fuhr ihren langen Arm aus, oder wie auch immer man dieses Körperteil bezeichnen sollte. Der Alte wusste es nicht.
»Nimm die Flossen weg«, warnte Enigma, trat etwas zurück und sammelte sich.
Sieht fast so aus, als wärst du jetzt fällig, dummer alter Digger, dachte er.
Fertig?
Er fasste seine Krücke am unteren Ende und holte aus. Alles geht irgendwann einmal zu Ende.
»Ich sagte, ihr sollt euch zum Teufel scheren«, wiederholte er langsam. »Habt ihr das endlich kapiert oder muss ich deutlicher werden?«
Die graue Gestalt beugte sich vor. Der Alte schlug mit aller Kraft zu.
Hinter sich hörte Iwan ein dumpfes Heulen. Seinen Rücken überlief ein leichtes Frösteln. Der Wind wahrscheinlich. In der Metro weht immer ein Wind.
Deshalb ist es ja die Metro.
10
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