Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
eine kleine Prozession von Blinden. An ihrer Spitze ging derselbe Mann, der auch schon die Gruppe auf der Fähre von Neuvenedig angeführt hatte. Ein groß gewachsener, hagerer Mann mit eingefallenem, länglichem Gesicht und einem langen Rauschebart. Anstelle seiner Augen befand sich in tiefen Höhlen grauenhaft vernarbtes, rosarotes Fleisch.
»Seht ihr die Kerze?« Der Blindenführer hob die Kerze hoch und Wachs tropfte auf sein faltiges Handgelenk. »Schaut sie euch nur gut an. Denn sie ist das letzte Licht, das ihr in eurem Leben zu sehen bekommt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte der Professor.
Wodjanik stand in der Zelle rechts von Iwan. Im schummrigen Licht erkannte der Digger sein bärtiges Gesicht. Der Professor presste es gegen die Gitterstäbe, als wollte er dem ersehnten Licht so nahe wie möglich sein.
Kein Wunder, dachte Iwan. Er ist vermutlich schon viel länger hier als ich.
»Ich meine es so, wie ich es sage«, erwiderte der Blindenführer.
Die Brüder hinter dem Rücken des Blindenführers schwiegen. Im schwachen Licht konnte man nur einen Teil der Zellen sehen. Wie viele es wohl insgesamt sein mochten? In einem davon erkannte Iwan ein Skelett, das mitten auf dem Boden lag und im flackernden Schein der Kerze gespenstisch leuchtete. Hallo, mein Freund.
»Ja genau, das ist auch eine Möglichkeit«, sagte der Blindenführer, als hätte er Iwans Blick bemerkt. »Wisst ihr, meine lieben … äh … Gäste. Ihr habt keine allzu große Auswahl. Entweder ihr werdet so wie wir oder …« – der Blindenführer schwenkte die Kerze zielsicher in Richtung des Skeletts – »… so wie er.«
»So werden wie ihr?« Die Zelle des Oberführers befand sich Iwan gegenüber auf der anderen Seite des Gangs. Der Skinhead stand breitbeinig da und hatte die Hände auf eine Querstrebe des Gitters gelegt. »Ihr meint, wir sollen Christen werden? Nichts lieber als das. Mach die Tür auf. Mein Glaube ist stark wie nie zuvor.«
»Rede keinen Unfug«, mahnte der Blindenführer. »Solltest du aber tatsächlich bereit sein …«
»Logo, Junge, was hast du denn gedacht«, ereiferte sich der Oberführer mit leuchtenden Augen. Die Ungeduld war ihm anzusehen. »Nun mach schon auf!«
»Nun gut, wenn du bereit bist, dann werde ich Bruder Simeon bitten, das Blendeisen vorzuglühen.« Einer der weiß gewandeten Brüder nickte – ein Hüne mit plattem Gesicht und einer Brandwunde an der Schläfe. »Oder würdest du eine Säurebehandlung vorziehen? Wenn ich dir einen Rat geben darf, Bruder, nach der chemischen Prozedur verheilen die Wunden schlechter und es dauert länger, bis die Schmerzen nachlassen. Ich an deiner Stelle würde deshalb das Blendeisen wählen.«
Mit versteinerter Miene presste der Oberführer die schmalen Lippen zusammen und schwieg.
»Nun, ich sehe schon, Bruder, es wäre wohl doch besser zu warten, bis dein Glaube etwas stärker geworden ist«, kommentierte der Blindenführer ätzend. »In zwei Tagen sehen wir dann weiter.«
»Dreckskerl«, fauchte der Oberführer.
»Das heißt also, wir haben nur die Wahl zwischen Blendung und Tod?«, fragte der Professor.
»Leider ja«, heuchelte der Blindenführer. »Die Kerze wird gleich verlöschen. Seid ihr bereit? Ich zähle bis fünf. Eins, zwei …«
Iwan schaute auf die züngelnde Flamme und sog sie in sich auf.
»… drei …«
Alles um ihn herum verschwand, nur die Flamme blieb.
Tanja legt ihm von hinten die Arme um den Hals. Iwan spürt gleichzeitig die Wärme ihres Körpers und die Kühle ihre Hände. Immer wenn er erschöpft ist, spendet ihm Tanjas aufgelegte Hand neue Kraft. So auch jetzt. Seine Stirn glüht. Iwan nimmt Tanjas Hand und legt sie auf seine Stirn. Die Kühle auf seiner Stirn verscheucht die Finsternis. Alles wird gut.
»Wann kommst du zurück?«, fragt Tanja.
Ihr Atem kitzelt an seinem Ohr. Sie beugt sich vor und sieht Iwan von der Seite an.
»Bald«, erwidert Iwan. »Ganz, ganz bald …«
Die Kerze flackerte. Durch den Raum wehte ein leichter Luftzug.
»Vier … Stopp.« Der Blindenführer drehte sich plötzlich nach seinen Brüdern um. »Ignatius, komm mal her.«
Aus dem Grüppchen der Blinden trat mit schlurfenden Trippelschritten ein kleiner, verhuschter Greis mit Halbglatze vor.
»Das ist Bruder Ignatius, euer Aufseher. Wenn ihr etwas braucht, wendet euch vertrauensvoll an ihn. Und wenn ihr Fragen bezüglich unseres Glaubens habt, wird sie euch Bruder Ignatius gewiss gern beantworten. Nicht wahr,
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