Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
genau darauf hinaus. Nur einer darf übrig bleiben.«
Einige Zeit später erreichten sie endlich die Tschornaja retschka . Iwan blieb mit offenem Mund stehen, als er den ersten Blick auf den Bahnsteig erhaschte. Die Station war nicht wiederzuerkennen. Beim letzten Mal war sie dunkel und verlassen gewesen, abgesehen von den paar Zigeunern, die sich um ein einsames Feuer versammelt hatten. Doch jetzt …
Iwan stieß einen Pfiff aus. Nicht ohne!
»Seht ihr dasselbe wie ich?«, fragte der Oberführer, der die Station offenbar auch von früher kannte. »Oder träume ich?«
»Nein, alles echt«, sagte Iwan. »Außer wir sind tot und im Paradies gelandet.«
Auf der vormals menschenleeren Station brannte ein buntes Lichtermeer und die Kuppeln riesiger Zelte ragten fast bis zur Decke empor. Der Zirkus war zurückgekehrt.
Wie nicht anders zu erwarten, gab der Professor umgehend sein Wissen zum Besten. Demnach war der Zirkus der Gegenwart nicht mehr ganz dasselbe wie in den Zeiten vor der Katastrophe. Genauer gesagt: In der Metro war man zu einer ursprünglicheren Form des Zirkus zurückgekehrt, für die der Begriff Karneval wohl zutreffender gewesen wäre. Ein von Ort zu Ort ziehendes Fest mit einem äußerst vielfältigen Unterhaltungsangebot: klassische Zirkusnummern, sportliche Wettbewerbe, Wahrsagerei, Zauberkunststücke, Fahrgeschäfte, Spiele um Geld und Preise (das, was man früher Kasino nannte), Dichtung, Musik, Gesang, Tanz und Theater. Und selbstverständlich auch käufliche Liebe.
»Ein Buffet der Künste«, sagte der Professor ironisch, doch Iwan verstand nicht, was er damit meinte.
Wie auch immer. Zirkus ist und bleibt nun mal Zirkus.
Nach den Akrobaten traten die Kraftmenschen auf.
Und nach den Kraftmenschen die Clowns.
Dann wurde eine Frau zersägt. Weitere Zauberkunststücke folgten. Halb nackte Mädchen führten einen Tanz auf.
Kurzum, es war für jeden etwas dabei.
Als Iwan von der Toilette zurückkam, begann gerade die nächste Vorstellung.
Iwan ließ sich in den vorderen Reihen nieder. Die Zuschauer saßen mit untergeschlagenen Beinen oder im Schneidersitz direkt auf dem Bahnsteig. Manche hatten eine Isomatte dabei. Warmduscher, dachte Iwan neidisch und erinnerte sich wehmütig an seine eigene Matte, die er an der Ploschtschad Wosstanija zurückgelassen hatte. Er hätte lieber zu den Warmduschern gehört, anstatt sich auf dem nackten Granit einen kalten Hintern zu holen.
»Und nun folgt der Auftritt von …« Der Conférencier machte eine dramaturgische Pause. »Ihr kennt und liebt sie alle – unsere wunderbareIsubra!«
Applaus brandete auf. Auch Iwan klatschte, obwohl er keine Ahnung hatte, was ihn erwartete. Vielleicht eine Zauberin? Er liebte Zauberkunststücke.
»Isubra, hurra!«, riefen einige aus der Menge.
Als die Angekündigte erschien, machte Iwan große Augen. Dem Namen nach hätte er eine … hm, etwas größere Künstlerin erwartet.
Die Bühne betrat eine klein gewachsene junge Frau, die aussah wie ein Schuljunge, und machte eine ungelenke Verbeugung. Sie wirkte schüchtern, um nicht zu sagen: verunsichert. Iwan fiel ein, was ihm Eleonora, das Mädchen auf der Kugel, gesagt hatte: Die wenigsten guten Künstler sind wirklich selbstbewusst.
Dann wollen wir doch mal sehen, was diese kleine Isubra so draufhat, dachte Iwan.
»Ich möchte euch zuerst einmal … willkommen heißen. Schön, dass ihr alle gekommen seid. Heute werde ich Gedichte vortragen. Alle möglichen, gute und vielleicht auch nicht ganz so gute. Solltet ihr ein ganz bestimmtes hören wollen …«
»Mama ist auf der Datsche und der Schlüssel liegt am Tisch!«, rief ein Zuschauer.
Die junge Frau sah auf und lächelte.
»Aber … Aber wir sind doch noch gar nicht am Schluss. Oder habt ihr schon genug von mir? Das ist ein Gedicht, das man vorträgt, bevor man sich voneinander verabschiedet. Fangen wir lieber mit etwas anderem an.«
»Das mit der Schildkröte!«
Die junge Frau nickte, ihre blassen Wangen röteten sich.
»Das mit der Schildkröte? Also gut.«
Iwan fand die junge Frau sehr sympathisch. Ihre schüchterne Art hatte etwas Gewinnendes.
Abwarten, sagte er zu sich selbst. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass du dich in jemandem täuschst.
Sei verflucht, Sasonow!
»Gut, dann fange ich jetzt an.« Die junge Frau holte tief Luft. Ringsum wurde es still. Iwan hatte den Eindruck, dass sogar der Atemrhythmus der Zuschauer sich synchronisierte. »Das Gedicht heißt ›Die Welt, erschaffen von …‹
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