Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
– ich weiß nicht, von wem. Oder einfach ›Die Schildkröte‹.«
Ihre leise, anfangs etwas nervöse Stimme wurde während des Vortrags fester.
»Dieses Märchen ist so einfach wie das Leben banal.
Im glitzernden Meer schwimmt ein blauer Wal.
Auf dem Wal eine Schildkröte – die größte von allen.
Auf ihrem Panzer die Erde, auf der Erde ein Berg.
Ich sitze am Gipfel, wo die Sonne mich wärmt,
mit dir auf den Armen und lass dich nicht fallen.«
Iwan hörte zu. Isubras schlichte Verse nahmen ihn sofort gefangen. Sie erschienen ihm bedeutsam, treffend und wahr. Als hätte ein anderer Mensch das gefunden, wonach er ein halbes Leben vergeblich gesucht hatte.
»Doch taucht der Wal, sinkt alles ins Meer.
Die Schildkröte trollt sich, was soll sie noch hier?
Dass die Erde herabfällt, geht ihr am Panzer vorbei.
Der Berg bröckelt, der Erde ist’s einerlei.
Erst wenn du den Tod spürst, wirst du das Leben begreifen.
Das Gras verdorrt, doch es wächst wieder nach.
Und aus dem Frühlingssand sprießen grüne Streifen.
Doch versagt mir die Hand, ist’s auch dein Ungemach.
So schwimmt der Wal, die Schildkröte schlummert.
Du aber träumst von einem riesigen Wal.
Von der Erde und dem Berg, wo die Sonne flimmert.
Vom Frühlingssand und glitzernden Tropfen im Gras.
Vom durchsichtigen Meer, das salzig schimmert.
Von mir träumst du nicht. Es gibt Wichtigeres als das.«
Als die junge Frau geendet hatte, trat für längere Zeit Stille ein, und Iwan fiel auf, dass sich die Gesichter der Zuhörer verändert hatten.
Dann klatschten sie.
Nach Isubra traten Akrobaten auf. Iwan begann sich zu langweilen. Wo waren die anderen abgeblieben?
Er blickte sich um. Im ersten Moment glaubte er, sich geirrt zu haben, doch ein zweiter Blick verschaffte ihm Gewissheit.
Sie saß in der letzten Reihe, genauer gesagt, sogar noch ein Stück dahinter. In ihrer feingliedrigen Hand qualmte eine langstielige Pfeife, deren Mundstück zwischen ihren dunkelroten Lippen steckte. Das bunte Zigeunergewand stand ihr überhaupt nicht. Jedenfalls stand es dem Mädchen auf der Kugel nicht, als das Iwan sie kennengelernt hatte.
Der Digger tippte seinem Nachbarn auf die Schulter.
»Wer ist das?«, fragte er im Flüsterton und zeigte mit dem Finger in die Richtung.
Sein Nebenmann schaute kurz, zeigte sich jedoch wenig auskunftsfreudig. Iwan half ihm mit einem eisernen Schultergriff auf die Sprünge.
»Eine Hexe«, presste der Nachbar hervor. »Lass los, das tut weh.«
Sie war nun also eine andere. Eine Hexe.
Iwan stand auf und ging zu ihr – mitten durch die Reihen der Sitzenden hindurch, deren schiefe Blicke er ignorierte. In diesem Augenblick strahlte er etwas aus, das die Leute veranlasste, ihm anstandslos Platz zu machen.
Auf dem Kopf trug sie einen langen braunen Schal, der wie ein Turban gewickelt war. Ihr entstelltes Gesicht verbarg er allerdings nicht. Wie auch, dazu hätte es schon einer Burka bedurft. Doch die Offenheit oder – genauer gesagt – Gleichgültigkeit, mit der sie ihre Hässlichkeit zur Schau stellte, versetzte Iwan einen Stich.
»Hallo, Lera«, sagte Iwan.
Er stand über ihr und schaute zu ihr herab. Die Hexe sah auf. Für einen kurzen Moment glaubte Iwan in diesem Blick die frühere Eleonora von Waiskaize zu erkennen, das Mädchen auf der Kugel. Aber nur für einen kurzen Moment …
Sie erkannte ihn nicht.
»Ich heiße Lachesis«, erwiderte sie und blies einen dünnen Strahl Rauch aus ihrem entstellten Mund. »Wahrsagen macht eine Patrone, ein Zauberspruch drei, ein Fluch fünf und Sex als Dreingabe zwanzig Patronen.«
»Ich bin es, Lera, Iwan. Von der Wassileostrowskaja .«
Ihr einziges Auge musterte ihn wie einen Wildfremden.
»Iwan? Na schön. Du hast zwei Möglichkeiten, Iwan. Löhnen oder wieder abziehen. Was willst du? Deine Zukunft wissen? Dir jemanden anlachen? Jemanden verwünschen? Oder …« Sie lächelte apathisch und bei diesem Lächeln lief es Iwan kalt den Rücken herunter. »Oder willst du mich?«
Unwillkürlich stellte sich Iwan vor, wie der Körper des Mädchens auf der Kugel sich an ihn schmiegte – nackt und in lustvoller Hingabe.
»Sag mir die Zukunft voraus, Lera … Lachesis«, erwiderte der Digger.
Auf dem Spirituskocher stand eine Blechtasse. Der rote Fleck auf ihrem Boden begann zu brodeln, und im Zelt breitete sich stechender Eisengeruch aus.
Lera-Lachesis schaute in die Tasse und schnalzte mit der Zunge.
»Auf dir liegt der Schatten eines Toten«, sagte sie zu ihm.
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