Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Pinocchio und nicht d’Artagnan?
Und was fang ich mit dem albernen Schlagring an?
D. SERGEJEW, frei nach dem Song »Fumblin’ with the blues«
von Tom Waits
15 Die Technoloschka
15
DIE TECHNOLOSCHKA
Am letzten Ufer.
Gischtschäumend rollten die Wellen über den Sand und zogen sich leise plätschernd wieder zurück. Eine nach der anderen. Aus dem Sand ragte eine halb vergrabene Gasmaske mit Atemschlauch. Wenn man näher heranging, konnte man den Rand einer Kapuze sehen, die über die Gasmaske gezogen war. Brauner Gummi. Kreisrunde Okulare. Dahinter – alles schwarz.
In den Okularen spiegelten sich das verwaiste Ufer und der graue, wolkenverhangene Himmel, der zwischen Tag und Nacht keinen großen Unterschied machte. Der radioaktive Himmel nach einem Atomkrieg. Die Wellen kamen und gingen. Die Maske blieb. Ein Symbol der Hoffnung. Der Mann hatte gehofft zu überleben.
In seinen gummierten Schutzmantel gehüllt war er ans Ufer gekommen. Die Kapuze hatte er über die Gasmaske gestülpt und mit der Schnur festgezogen.
Jetzt lag er hier in der friedlichen Brandung. Um ihn herum lachten die Tage und die Jahre. Die tote Gasmaske schaute sich das alles an und schwieg. Der Tod ereilt uns ohnehin, früher oder später.
Fjodor wollte gar nicht wissen, wie der Mann gestorben war. Er nahm eine kurze Schaufel aus dem Rucksack und kniete neben dem Toten nieder. Eine Welle rollte heran und brachte einen kühlen Luftzug mit. Der Schrei einer Möwe – gellend und schrill. Nein, keine Möwe. Die neuen Herrscher der Welt.
Fjodor legte die Schaufel neben dem Toten ab. Dann griff er mit seinen zweifingrigen Gummihandschuhen direkt neben der Gasmaske in den Sand, etwa in Höhe der Ohren. Auf geht’s, Junge. Der dichte, nasse Sand wurde weiß, als das Wasser daraus entwich.
»Hallo, Soldat«, sagte Fjodor.
Im Rauschen und Plätschern der Wellen klang seine Stimme, als käme sie aus einer anderen Welt. Was im Grunde auch stimmte.
Die Menschen hatten hier nichts mehr zu melden.
Doch darum ging es auch gar nicht. Der alte Mann sah auf und schaute aufs Meer hinaus. Ein sich kräuselnder grauer Spiegel. Am Horizont ein rosa Nebelstreifen. Fjodor schüttelte den Kopf und blinzelte. Die Atemschutzmaske, die er trug, war für ihn so normal wie für andere Leute eine Brille. Er hatte sie ständig auf. Außer zu Hause natürlich. Drinnen.
Die Sonne ging langsam auf. Durch das Haar des alten Mannes strich eine sanfte Brise. Früher, kurz nach dem Krieg, hätte ein solcher Wind den Tod bedeutet, denn er hätte radioaktiven Staub und eine satte Dosis Röntgen pro Stunde im Gepäck gehabt. Nun aber wehte er die Frische der neuen Welt herbei.
Nichts hat jemals ein Ende. Träge stieg die Sonne über den Horizont. Wie ein Atompilz in Zeitlupe. Die Sonnenuntergänge hatten jetzt nichts Besonderes mehr. Damals, kurz nach dem Krieg, waren sie unfassbar schön gewesen. Wegen der Unmengen an Ruß und Staub, die bei den Kernexplosionen in die Atmosphäre gelangt waren.
Der alte Mann schüttelte den Kopf und schaute. Seine Augen schmerzten bereits, doch er hielt durch. Als die Sonne den Horizont in Blut tauchte und sich die Hände im Meerwasser wusch, senkte Fjodor den Blick. Die nächste Welle rollte heran. Seine Hände steckten zur Hälfte im Sand. Allmählich presste er sie fester hinein. Der Sand wurde zusammengedrückt und saugte sich dann wieder mit Wasser voll. Fjodor krümmte die Finger und stieß auf etwas Hartes, Gummiartiges. Endlich. Er atmete durch und begann zu ziehen.
Er schaffte es nicht. Die Gasmaske bewegte sich höchstens um einen Zentimeter. Weiter ging es nicht. Er musste graben.
Wer warst du?, fragte sich der alte Mann. Was soll ich auf dein Grab schreiben?
Fjodor hoffte, unter der Schutzkleidung des Toten Papiere zu finden. Vielleicht einen Brief. Ein Brief wäre ideal.
Doch die Wahrscheinlichkeit, einen zu finden, war gering. In den letzten Jahren vor der Katastrophe hatten die Leute nicht viele Briefe geschrieben. Jedenfalls nicht auf Papier. Er auch nicht.
Wenn man weiß, dass man nicht sterben wird, genügt auch eine E-Mail. »Komme bald. F.« Unter der Maske des alten Mannes versteckte sich ein bitteres Lächeln. Wenn er gekonnt hätte, hätte er geweint. Gewissensbisse sind die schlimmste Strafe. Wenn er gekonnt hätte, hätte er etwas anderes geschrieben. Ein idiotisches Gefühl. Was hätte es geändert, wenn er geschrieben hätte: »Ich liebe dich sehr. Gib Andrjuschka einen Kuss von mir.« Was hätte es
Weitere Kostenlose Bücher