Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
geändert, wenn sie das gelesen hätte, bevor die Bomben auf die Stadt fielen?
Ironie des Schicksals: Er hatte überlebt, weil er im Reaktorkern eingesperrt war. Wem würde so was auch nur im Traum einfallen?
Der alte Mann setzte die Schaufel an. Die nächste Welle rollte heran.
Lass die idiotischen Gedanken und mach deine Arbeit, sagte sich Fjodor und rammte die Schaufel in den Sand.
Hätte ich nur ihr Gesicht sehen können, als sie meine Nachricht erhielt. Oder …
Fjodor hielt inne.
Wahrscheinlich hätte ein »Ich liebe dich sehr« sie nur erschreckt. Frauen sind ja generell sensibler als Männer.
Fjodor hatte seine Frau vor Augen, wie sie mit ihrer bunten Schürze in der Küche stand, wie sich ihre Miene verdüsterte und wie ein Schatten auf ihr Gesicht fiel. Der Schatten eines Atompilzes.
Der alte Mann schauderte.
Nein, nein, er hatte es schon richtig gemacht. »Komme bald. F.« war in jenem Moment genau das Richtige gewesen. Alles wie immer. Hoffentlich hatte sie gar nicht mitbekommen, dass damals alles zu Ende ging.
Nun war alles zu Ende. Sie und sein Sohn waren tot, und er grub hier Leichen aus.
Er stieß die Schaufel bis zur Hinterkante in den Sand, löste einen wässrigen Klumpen daraus und schippte ihn beiseite. Wasser tropfte von der Schaufel, während er sie erneut ansetzte.
Eine stupide Beschäftigung. Er grub und schaufelte wie ein Roboter. Auch die Bedienung des Reaktors war inzwischen zur reinen Routine geworden. Die Wellen strichen den aufgeschütteten Sand glatt. In die Grube um den Kopf des Gasmaskenträgers flutete Wasser und verwischte die scharfen Spuren der Schaufel. Die Gasmaske beobachtete das Treiben des alten Mannes durch die runden Okulare.
Gleich, Junge. Noch einen Augenblick Geduld.
Der Gasmaskenträger hatte jede Menge Geduld. In den Okularen spiegelte sich nichts. Guter Junge. Abermals bohrte sich das Schaufelblatt in den Sand. Das Geräusch, das dabei entstand, erinnerte an das Signal einer ankommenden E-Mail. Oder einer gelöschten? Der alte Mann erinnerte sich nicht mehr. Jedenfalls hatte es etwas mit E-Mails zu tun.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich damals auf Papier geschrieben.
Und sie hätte mir zurückgeschrieben.
Fjodor schloss die Augen und sah den Kühlschrank in der Küche vor sich. Es war ein alter Kühlschrank. Sie hatte sich immer einen neuen gewünscht, doch er war dagegen gewesen. Er hatte überhaupt eine Abneigung gegenüber Veränderungen in seinem Leben. Manchmal nachts hatte die Kiste gerüttelt und gepoltert wie ein Flugzeug bei der Landung. Aber selbst das hatte ihn nicht weiter gestört. Der Alte sah den Kühlschrank vor sich. An der Tür alle möglichen Zettel, mit Souvenirmagneten befestigt. Rhodos, Kreta – und eine lächelnde Pflaume. Als wären sie im Land der lächelnden Pflaumen gewesen.
Auch eine Kinderzeichnung hatte dort gehangen. Doch daran wollte er sich lieber nicht erinnern.
Während der alte Mann weiterschaufelte, färbte sich der Sand vor ihm zuerst rosa und dann rot.
Was es wohl mit der verdorrten Vegetation auf sich hatte? Vielleicht lag es daran, dass sich das Ozonloch über die ganze Erde ausgebreitet hatte? Jedes Mal, wenn Fjodor den Kopf hob und die nächste Portion Sand wegschippte, fiel sein Blick auf den abgestorbenen Wald. Schwarze Stämme, knorrige tote Äste. Ein Teil der Bäume war bereits umgefallen, doch sie verrotteten nicht. Seltsam.
Ach was, seltsam. Ganz normal.
Wenn ich Biologe wäre, würde ich eine ganze Doktorarbeit darüber schreiben, dachte der alte Mann. Einen ganzen Stapel Doktorarbeiten.
Schaufel für Schaufel grub Fjodor den Toten aus.
Was den Mann wohl dazu bewogen hatte, ans Ufer zu kommen? Wollte er zum letzten Mal einen Sonnenaufgang bewundern? Quatsch, Sonnenaufgang. Nach einem Atomkrieg. Einen Monat oder noch länger hatte damals die Sonne nicht geschienen. Eine eisige Kälte brach herein, und der Wind vom Meer war so stark, dass er Bäume entwurzelte. Richtige Orkane waren das.
Doch anstelle des atomaren Winters haben wir dann weiß der Henker was bekommen.
Die, die überlebt haben, natürlich.
Inzwischen lag das ganze Ufer in blutrotem Licht. Der alte Mann hielt inne, um zu verschnaufen. Sein Rücken schmerzte, als hätte man ihm ein Stahlrohr ins Kreuz gerammt. Macht nichts.
Richtige Orkane. Und dann diese Kälte.
Obwohl eigentlich Sommer war. Damals hatte er das Reaktorgebäude verlassen, um sich draußen umzusehen. Die Absperrung des Kontrollbereichs war zum Glück nur
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