Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
mit solcher Wucht auf ihn zu, dass ihm beim Fangen das Handgelenk brannte und die Finger taub wurden.
»Mist!«
In der Menge brach Gelächter aus.
»Tut mir leid, Wanja«, sagte Sasonow ohne sonderliche Reue. »Irgendwie stehe ich neben mir, sorry.«
»Okay, okay. Für heute ist’s genug.« Iwan winkte ab. Seine Pfote schmerzte immer noch. »Jegor, du sammelst die Bälle ein. Feierabend, die Show ist zu Ende.« Die Menge raunte enttäuscht.
Während Gladyschew die Bälle einsammelte, knöpfte Iwan sich Sasonow vor. »Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst irgendwie angeschlagen.«
»Schau doch mal in den Spiegel, Wanja. Im Vergleich zu deiner Visage ist ein Urwald gepflegt.«
Sasonow grinste schief, drehte sich um und ging davon. Sein beiger Mantel leuchtete im Halbdunkel der Station.
Wo er nur immer hingeht?, fragte sich Iwan. Ob er sich an der Gostinka ein Mädel angelacht hat? Der ist doch völlig von der Rolle.
Während er seinem Freund hinterhersah, fuhr sich Iwan mit der Hand über die Wange. Sasonow hatte recht: Rasieren war mal wieder überfällig.
Iwan nahm den Kessel mit heißem Wasser und tauchte das Rasiermesser ein, um es zu erhitzen. Er versuchte, sich so hinzustellen, dass er in dem kleinen, etwa handtellergroßen Spiegel mit Plastikrahmen wenigstens einen Teil seines Gesichts sehen konnte. Dann nahm er das Rasiermesser aus dem Wasser und zog es vorsichtig über die eingeseifte Wange. Knirschend schabte die heiße Klinge die Bartstoppeln ab.
In diesem Moment tauchten sie auf. Aus dem Übergang zur Gostinka stürmte beinahe im Laufschritt der hünenhafte Kulagin. Verfolgt wurde er von einem kleinen, dicken Männchen, das einen Anzug trug. Typen laufen hier rum, dachte Iwan.
»Warum, zum Teufel, folgst du mir?!«, fuhr Kulagin den Dicken an.
Der Zivilist geriet für einen Moment in Verlegenheit, doch dann blickte er direkt in das zornige Gesicht des Kommandeurs der Wassileostrowskaja .
»Ich … äh … ich fordere …«
»Was forderst du?!«, blaffte Kulagin.
Der Zivilist nahm all seinen Mut zusammen und pumpte sich zu maximaler Größe auf.
»Ich fordere ein sofortiges Verbot der Blendgranaten! Es handelt sich um eine inhumane Waffe! Der Friedensrat der Metro …«
»Dein Friedensrat geht mir am Arsch vorbei«, sagte Kulagin wahrheitsgemäß.
»Menschen haben ihr Augenlicht verloren.«
Die Blendwirkung der Granaten hatte sich in der Tat als problematisch erwiesen. Insbesondere für die Angreifer selbst. An den Stationen der Allianz gab es keine Zentralbeleuchtung. Grelles Licht wie an der Majakowskaja waren die Bewohner nicht gewohnt. Von den Blendgranaten ganz zu schweigen. Etliche Kämpfer waren mit lädierter Netzhaut zum Newski prospekt zurückgeschickt worden. Manche hatten ihre Sehkraft wiedererlangt, andere nicht. Iwan schabte über seine Wange und spülte das Rasiermesser im Wasserkessel aus.
»Wer bist du überhaupt?« In seinem schmutzigen, am Ellenbogen zerrissenen Tarnanzug baute sich der baumlange Kulagin drohend vor dem Zivilisten auf. »Was hast du hier verloren? Hier herrscht Kriegsrecht, Bürschchen, und weißt du, was das heißt? Stell dich an die Wand!«
»Dazu haben Sie kein Recht!«, entrüstete sich der Dicke mit seiner dünnen, nervtötend piepsigen Stimme. »Ich bin ein Beobachter des Friedensrats! Ich bin neutral!«
»Wir brauchen hier keine Beobachter«, beschied Kulagin kaltblütig, zog seine Pistole und lud durch.
»Das ist Willkür!«, schrie der Zivilist verzweifelt. Sein Gesicht war schlagartig totenblass geworden.
So ist es immer, dachte Iwan, während er sich weiter die Stoppeln von der Wange schabte. Sobald die Idealisten mit realer Gewalt konfrontiert werden, verflüchtigt sich ihr Enthusiasmus augenblicklich.
»Oleg«, rief Iwan leise.
Kulagin wandte sich um und ihre Blicke trafen sich. Iwan schüttelte unmerklich den Kopf: Lass das.
Kulagin besann sich. Er spuckte aus, fluchte, steckte seine Pistole ins Halfter zurück und ging. Finita la commedia. Der Dicke indes blieb. Iwan schwante Übles. Zu Recht.
»Da erkennt man doch sofort den kultivierten Menschen«, plapperte der Zivilist, trippelte herbei und streckte Iwan die Hand entgegen.
Iwans Blick wanderte vom Wasserkessel in seiner Linken zum Rasiermesser in seiner Rechten und verharrte dann zerstreut auf dem pausbäckigen Gesicht des Zivilisten.
»Entschuldigen Sie«, sagte dieser betreten. »Kann ich mit Ihnen sprechen?«
Es bleibt einem auch nichts erspart, dachte Iwan
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