Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
sprechen, wenn man bedenkt, dass ein Zehntel der vorgesehenen Dosis bereits genügt hat, um …«
»Alles klar, Professor«, unterbrach ihn Iwan, obwohl er maximal die Hälfte der Diagnose verstanden hatte. »Na?!« Er wandte sich an den General. »Räumen wir die Majakowskaja ?«
»Ich glaube, ich habe den ›Montagepunkt‹ gefunden«, verkündete Solocha, ehe Memow antworten konnte. »Hört ihr? Das kann man nicht beschreiben … Aber ich werde es versuchen. Der Sinn des Lebens. Ich sehe ihn klar und deutlich.«
Der General hüstelte.
»Wunderbar«, jubilierte der Professor und stürzte mit gezücktem Notizblock zu Solocha, als wollte er dessen Sinn des Lebens umgehend zu Papier bringen.
Memow schmunzelte.
»Meine Herren, wir schreiten unverzüglich zur Umsetzung des Merkulow-Plans.«
»Die Geschichte von der Station der Auswanderer ist natürlich legendär«, erklärte Professor Wodjanik. »Eines Tages versammelten sich all ihre Bewohner – Männer, Frauen, Kinder und Greise – und beschlossen den Auszug aus der Station. Sie öffneten die hermetischen Tore und stiegen über die Rolltreppen an die Oberfläche. Worauf hofften sie? Darauf, dass sie es durch die verstrahlte Zone schaffen würden? Dort oben sind ihnen wahrscheinlich vom Knattern der Geigerzähler die Ohren abgefallen.
Hofften sie darauf, außerhalb der Metropole zu überleben? Ich weiß es nicht. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt. Wir haben nie wieder von ihnen gehört. Vielleicht haben sie es geschafft, in eine mehr oder weniger unverstrahlte Gegend zu gelangen, und sich dort niedergelassen. Vielleicht stießen sie dort sogar auf Gleichgesinnte. Oder sie sind alle zugrunde gegangen, an der Strahlenkrankheit, an Epidemien und Hunger. Vermutlich werden wir es nie erfahren.« Der Professor schüttelte den Kopf. »Wir sind Kinder einer technokratischen Zivilisation. Tschuktschische Eskimos oder australische Aborigines haben größere Überlebenschancen als wir. Wesentlich größere. Allein schon deshalb, weil sie nicht in dem niederschmetternden Gefühl leben müssen, alles – absolut alles! – verloren zu haben. Selbst das Internet gibt es nicht mehr.« Der Professor warf einen Blick zu Iwan und den anderen, die noch als Kinder in die Metro gekommen waren. »Aber das wird euch sowieso nichts sagen. Jedenfalls ist alles zu Ende. Und schuld daran sind wir selbst. Wir alle, die ganze Menschheit, haben einen kollektiven Selbstmord begangen. Wir haben die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt. Peng! Ich weiß nicht, worauf man in einer solchen Situation hoffen soll.«
»Sie sind ein Pessimist, Professor«, kommentierte Sasonow ironisch.
»Ach, was Sie nicht sagen«, entgegnete Wodjanik gallig. »Eine ganze Station von Optimisten hat sich aufgemacht, um ein besseres Leben zu finden. Eine Chance für die Menschheit. Und wo sind sie jetzt? Nein, mein Lieber, Sie müssen entschuldigen, aber da bleibe ich doch lieber Pessimist.«
»Ich kann mir schon vorstellen, dass sie es gefunden haben«, warf plötzlich Kusnezow ein. »Ein besseres Leben, meine ich. Jedenfalls würde ich das gern glauben.«
Niemand sagte etwas darauf.
»In Wirklichkeit«, dozierte der Professor in das betretene Schweigen hinein, »ist diese Geschichte ein Lehrstück darüber, wie gefährlich Hoffnung ist.«
»Trügerische Hoffnung?«, fragte Iwan und sah Wodjanik aufmerksam an.
»Jede Art von Hoffnung.«
Die Moskowiter durfte man nicht unterschätzen. Eine längere Inaktivität vonseiten der Allianz wäre ihnen gewiss verdächtig vorgekommen. Aus diesem Grund entschloss man sich zu einem weiteren Sturmangriff auf die Station Ploschtschad Wosstanija , obwohl die Vorbereitungen für den Gasangriff bereits in vollem Gange waren.
Gesagt, getan.
Als Iwan zur Majakowskaja zurückkam, drängten sich dort finstere, nach Pulver stinkende Kämpfer, die soeben aus der Schlacht zurückgekehrt waren. Verwundete stöhnten. Man verlud sie eilig auf Draisinen und brachte sie durch den Tunnel zur Gostinka . Die Toten lagen separat. Neun Mann waren gefallen. Verdammt viele für ein Ablenkungsmanöver.
Iwan traf Schakilow. Er war schmutzig und abgekämpft. Sie grüßten sich per Handschlag. Iwan sah sich um. Auf einer Bank bei einer Säule hatten die Skinheads ihr Lager aufgeschlagen. Iwan erkannte den Grauen – er hatte eine Narbe am Hinterkopf. Gerade war er dabei, seinen Kumpels aus einem Flachmann einzuschenken.
Die Skinheads hoben die Tassen und tranken schweigend, ohne
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