Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
letzten Mal schließlich kommen müssen. Plötzlich bemerkte Iwan, dass Kossolapy seinen Gehrhythmus verändert hatte. Und dass er näher an Iwan heranrückte.
Das bedeutete wohl eine Veränderung der Marschroute. Oder etwas anderes. Iwan schluckte – seine Kehle war ausgetrocknet. Die Führung hatte an jenem Tag Kossolapy, doch eine nebulöse Vorahnung und eine eisige Leere im Magen sagten Iwan, dass dies keine einfache Expedition werden würde. Sondern eine Prüfung.
»Sei ehrlich«, sagte Kossolapys dumpfe Stimme.
Über den Winter hatte er sich einen Bart wachsen lassen, doch den sah Iwan in diesem Augenblick nicht. Durch die Sichtscheibe der Maske hindurch sah er nur Kossolapys Augen, die so blau leuchteten wie die fluoreszierenden Zeiger einer Uhr.
Es war so weit.
Iwan schaute auf die Sprechmembran, aus der Kossolapys Stimme drang. Schneeflocken fielen auf die Kunststoffmaske und schmolzen. Die Sichtscheibe war an den Rändern beschlagen. Iwan hörte Kossolapys gleichmäßige Atemzüge. Die Sprechmembran verstärkte das Geräusch.
»Sei ehrlich. Du kannst anlügen, wen du willst, sogar mich. Aber dir selbst gegenüber musst du ehrlich sein. Das ist einfach. Irgendwo im Hinterkopf wirst du immer spüren, ob das, was du tust, richtig ist. Dort hast du einen inneren Kompass. Du musst nur gut hinhören. Moral ist relativ, wird man dir entgegenhalten. Das ist wahr. Doch auf diesen inneren Kompass kannst du dich immer verlassen.«
Kossolapys Atem, seine Stimme.
Iwan beobachtete, wie die letzten Flocken in der Glaskugel herabrieselten, und erinnerte sich.
Was sagt dein innerer Kompass, Iwan?
»Gehen wir«, sagte Kossolapy. »Jetzt übernimmst du die Führung.«
Warum gibt es keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen?
Das würde vieles leichter machen, nicht wahr, Iwan?
Was sagt dein innerer Kompass, dieser alberne moralische Imperativ?
Was ist in dieser Situation richtig und was ist falsch?
Denk nach, Iwan, denk nach.
Du kannst einfach vergessen, was du weißt, dann bleibt alles beim Alten.
Noch ein letztes Mal schüttelte Iwan die Glaskugel auf und wartete, bis die letzte Schneeflocke herabgefallen war. Dann räumte er die Kugel in seine Tasche. Er schloss die Augen, zählte bis fünf, öffnete sie wieder.
Und stand auf.
»Hast du Schakilow gesehen?«
Solocha ließ sein Buch sinken, rückte die Brille zurecht und sah auf.
»Hast du ihn gesehen oder nicht?!« Iwan verlor die Geduld.
»Er ist doch im Lazarett. Was ist denn los?«
Verdammt! Das hatte Iwan völlig vergessen.
»Und Pascha?«
Solocha schüttelte den Kopf und musterte Iwan mit einem seltsam entrückten Gesichtsausdruck, als sähe er ihn zum ersten Mal. Seit seiner »religiösen Erfahrung« wirkte er generell übermäßig ruhig und in sich gekehrt. Ob er Solocha mitnehmen konnte? Fraglich, ob er einer solchen Aufgabe gewachsen war.
Iwan überlegte.
»Hast du was verloren, Iwan?«, fragte eine bekannte Stimme hinter seinem Rücken.
Sasonow. Der kam gerade recht. Pascha war ohnehin viel zu anständig und in kritischen Situationen oft zu nachgiebig. Bei diesem Vorhaben war indes Härte gefragt, und ein Schuss Brutalität konnte auch nicht schaden.
Iwan wandte sich um. »Du bist genau der, den ich jetzt brauche. Hast du ein Schießeisen dabei?«
Auf Sasonows Gesicht erschien das typische schiefe Grinsen.
»Was hast du denn gedacht?«
In der Tat. Aus Sasonows Schulterhalfter ragte der glänzende Griff seines Revolvers.
»Sehr gut«, sagte Iwan. »Gehen wir. Wir müssen etwas regeln.«
»Sofort?«
»Ja. Die Zeit drängt.«
Sasonow lächelte.
»Verstanden, Chef. Wo gehen wir hin?«
»Mir nach.«
Die Würfel sind gefallen, dachte Iwan. Jetzt starten wir einen hübschen kleinen Putsch.
Tunnel, Tunnel, Tunnel.
Iwan atmete tief durch. Hier, in der Dunkelheit und hallenden Leere der Tunnel, fühlte er sich wieder wie er selbst.
»Geh zum General«, hatte er einem Admiralzen befohlen. »Sag ihm, dass Iwan Merkulow ihn im Zwischentunnel erwartet. In Sachen Zukunft.« Iwan konnte sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. »Sag ihm, dass ich weiß, wo sich Achmet jetzt aufhält.«
Hoffentlich beißt er an, dachte Iwan. Aber warum nicht? Schließlich bin ich jetzt auf seiner Seite.
Der Admiralze stutzte kurz und flitzte dann dienstfertig davon.
Warum nur läuft es jedes Mal auf so etwas hinaus? Warum?
»Iwan.« Sasonows Stimme in seinem Rücken.
Noch völlig in Gedanken versunken drehte Iwan sich um – und
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