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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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philosophische Frage, Joyce? Warum sind wir hier? «
    »Nein. Ist es nicht. Ich bin eigentlich im Haus der Watts’ oder schwebe auf einer Wolke darüber. Keine Ahnung. Was ich aber weiß, ist, dass ich nicht wirklich zusammen mit dir in der Küche unserer ehemaligen Nachbarn stehe. Das kann nicht sein, und du weißt es.« Sie schwenkte einen Arm durch den Raum. »Das ist eine Illusion, ein Trugbild. Ich denke, es ist an der Zeit, mich nicht mehr davon kontrollieren zu lassen. Also frage ich dich noch einmal: Warum bin ich hier?«
    »Nein«, sagte er und lehnte sich weiter zurück – zeigte dabei seinen Körper. Joyce wandte sich ab, sah den Kühlschrank an. »Das hier ist nicht real«, fuhr er fort. »Du schwebst nicht über dem Haus, trotzdem ist das hier die wirkliche Welt, das versichere ich dir.« Er setzte sich aufrechter hin, vermutlich weil er bemerkte, dass seine Zurschaustellung nicht die gewünschte Wirkung erzielte. »Fühlst du dich besser, da du das jetzt von der Seele hast?«
    Ihr missfiel sein herablassender Tonfall ebenso wie die Art und Weise, mit der er wie üblich langsam ihren Körper von oben bis unten musterte. Im Vergleich zu Deanna fühlte sich Joyce hässlich. Sie drehte sich ihm wieder zu, starrte durch das kleine Fenster über dem Spülbecken ...
    Und sah sich selbst, wie sie von ihrem Auto in der Auffahrt nebenan wegtrat, zu Rays Wagen schaute und wieder zurück zum Haus. Ein rascher Blick hier herüber, fast direkt zu ihr, und wieder weg. Joyce erinnerte sich doch an diesen Moment. Irgendwo in ihr stieg ein vertrauter, tief sitzender Schmerz auf. Sie stellte sich ihre Tochter Rebecca vor, nicht als das Kind, das sie zu der Zeit gewesen war, in der sie sich gerade befand, sondern in der Gegenwart, als die gepiercte, punkige Collegestudentin, ihre Tochter und beste Freundin. Irgendwie half das, wenngleich sie nicht wusste, ob sie Bec je wiedersehen würde.
    Ohne sich abzuwenden, flüsterte sie: »Wer bist du?«
    Das Schaben eines Stuhls über Linoleum, ein leises Platschen von Füßen, als er aufstand. »Oh, ich bin Ray. Vermute ich.« Seine Stimme erklang so nah. Sie spannte die Schultern an, eine Sekunde, bevor sich seine hässlichen, perfekten Hände darauf legten. Nicht brutal, sondern ironisch sanft.
    »Und du bist Reverend Joyce Lindu, ehemalige Pastorin einer kleinen Episkopalgemeinde, die nun verloren zwischen alten Träumen und zerschmetterten Hoffnungen umherirrt.« Er drückte ihre Schultern. Joyce verspürte Übelkeit, die ihr die Kehle zuschnürte und sie das Gesicht verziehen ließ. Aber sie würde sich nicht übergeben. Sie wollte ihn gerade abschütteln, als er sie losließ, von ihr zurücktrat und murmelte: »Alte Träume und zerschmetterte Hoffnungen ... das sollte ich mir aufschreiben.« Der Stuhl scharrte erneut. Er musste wieder Platz genommen haben.
    Die andere Joyce, jene draußen, ging durch die geöffnete Vordertür der Kirche. Man musste durch die Kanzlei, um zum Wohnbereich zu gelangen. Für einen zweiten Eingang bot ihr winziges Heim einfach zu wenig Platz. Alles, was sie besaßen, war spärlich, bescheiden. Einst hatte sie das für gut gehalten, für eine Möglichkeit, die Prioritäten richtig zu setzen. Die Letzten werden die Ersten sein , nach diesem Motto. Nun schürte es nur das Unbehagen, das durch ihre Eingeweide strömte. Sie hatte sich nie schäbiger als in diesem Augenblick gefühlt.
    »Arme Joyce«, meinte Ray ohne jegliches Mitgefühl in der Stimme. »Erst verliert sie ihren Mann, dann auch noch ihre Kirche. Aber wenigstens steht es dir jetzt frei, wegzurennen, um dich in einem dreckigen Dschungel Tausende Meilen entfernt zu verkriechen. Nimm unsere Tochter und beherzige die Worte des Jakobus, setz deinen Glauben in die Tat um. Vergrab den Kopf in Dschungelerde, sodass niemand ...« Unvermittelt seufzte er, ohne den Gedanken zu Ende zu führen. »Ach, was soll’s. Viel Spaß, sage ich.«
    Joyce drehte sich um. Nach dem grellen Sonnenschein draußen wirkte der Raum dunkel, und Rays Gestalt zeichnete sich nur als verschwommener Schemen ab. Sie durfte sich von diesem Ding, was immer es sein mochte, nicht zerstören lassen. Immerhin hatte das selbst Ray nicht geschafft, nicht einmal nach jener entsetzlichen letzten Nacht, in der alles, jede Illusion, die sie um sich herum aufgebaut gehabt hatte, so grausam auseinandergebrochen war.
    Sie musste die Kontrolle übernehmen, musste Nervenstärke zeigen. Joyce räusperte sich, dennoch brachte sie nicht mehr

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