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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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einem Gewehr, das mit einem Fingerzucken ganze Welten zerstören konnte. Seyha blickte seinen Körper entlang. Kein Gewehr, überhaupt keine erkennbare Waffe.
    »Fast da«, flüsterte er, während sie grübelte und ihn musterte. Er war ihr Führer durch die Hölle und spielte seine Rolle gut.
    Sie passierten einen Raum nach dem anderen. Bei einigen standen die Türen offen. Aus ihnen drang der Gestank, aus manchen stärker als aus anderen. Seyha wagte nicht hineinzublicken; selbst aus dem Augenwinkel sah sie bereits zu viel. Kauernde Schemen auf dem Boden, die vor ihren vorübereilenden Schritten zurückschraken. Sähe sie hin, würde sie zu viel Elend erblicken, um es zu verarbeiten.
    Hinter einer geschlossenen Tür brüllte ein Mann in ihrer mittlerweile fremden und doch so vertrauten Muttersprache. Die Worte verstand Seyha nicht, aber ihre Bedeutung war augenscheinlich. Ein Schrei um Gnade. Auf einige wütende Stimmen folgte weiteres Flehen von der ersten.
    Als sie sich der nächsten Tür näherten, verlangsamte der Junge die Schritte deutlich. Wieder verstärkte sich der Geruch. Aus dem Inneren drangen keine Geräusche.
    Bitte, steck mich nicht da rein, dachte sie. Ich sollte nicht hier sein.
    »Richtig«, pflichtete ihr Begleiter ihr bei. »Solltest du nicht. Du bist nur eine Besucherin und solltest geehrt werden.«
    Unmittelbar vor der Tür blieben sie stehen. Seyha erspähte zwei nackte Füße, dreckig, die Zehen eingerollt, als hätten sie Schmerzen.
    »Nicht viele Außenstehende haben diesen Ort gesehen«, erklärte der Junge. »Zumindest nicht in seiner ...« Er vollführte eine zerstreute Handbewegung. »Wie lautet das Wort? In seiner Glanzzeit? Ja«, meinte er und nickte. »Glanzzeit. Komm mit.«
    Seine Fingerspitzen übten leichten Druck auf ihren Ellbogen aus. Seyha widersetzte sich. Seine Hand wanderte ihren Arm hinauf und schloss sich fester darum. Er zog sie vorwärts in den Raum. Mit einem Stoß schob er Seyha an sich vorbei. Der Soldat blieb auf dem Flur. »Sie haben Besuch, Mr. Doung.«
    Seyha schloss die Augen. Hinter ihren Lidern tänzelten grelle Punkte. Sie hatte bereits zu viel gesehen. Was man ihr zeigen wollte, war eine Lüge. Es war falsch!
    Der Mann auf dem Boden flüsterte: »Sumto, kum wai kinyum. Kinyum utwer awai kep kaus tha.«
    Bis zu diesem grässlichen Moment in der Geschichte der Menschheit, der ihre Welt zerstört hatte, war die Sprache des Mannes ihre eigene gewesen. Im Verlauf der Zeit hatte Seyha sie vergessen. Die Ordensschwestern hatten sie ihr mit Englisch, Französisch und Latein abgewöhnt. In all den Jahren hatte sie nie versucht, ihre Muttersprache wieder zu erlernen. Es hatte keine Notwendigkeit dazu bestanden. Sie hätte also die Worte des Mannes nicht verstehen sollen, doch in diesem Traum dunkler Magie schien alles möglich, solange es schmerzte.
    Der auf dem Boden liegende Mann hatte jenseits ihrer geschlossenen Lider gesagt: Bitte, tut mir nicht weh. Ich habe nichts Falsches getan.
    Selbst wenn der Soldat seinen Namen nicht ausgesprochen hätte, Seyha hätte gewusst, wer dieser Mann war. Deshalb hatte sie die Augen geschlossen. Was sie bewog, sie wieder zu öffnen, war der Klang seiner Stimme, einer Stimme, die sie geglaubt hatte, nie wieder zu hören. Seyha blickte auf ihren Vater hinab. Er lag auf der rechten Seite eingerollt auf einer zerrissenen Strohmatte. Große, dunkle Flecken besudelten seinen dunkelgrauen Pyjama. Seine Augen waren zwischen den verfärbten Schwellungen in seinem Gesicht offen. Zwei schmale, glitzernde Schlitze.
    »Vater?«
    Er blinzelte, kniff die Lider zusammen und öffnete sie wieder. Trotz offenkundiger Schmerzen verlagerte er die Haltung, um ihr den Kopf zuzudrehen. Die Kette, die von seinen gefesselten Handgelenkten zu einem Eisenhaken im Boden verlief, wickelte sich um ihn wie die letzten Reste einer zerschlissenen Decke. Er öffnete den Mund, in dem sich kaum noch Zähne befanden.
    »Vater!«, stieß Seyha erneut hervor. Sie kauerte sich hin und bettete sein Gesicht in ihre Hände. Beiläufig wurde ihr klar, dass sie laut gesprochen hatte. Die Regeln änderten sich fortwährend.
    Ihr Vater sah alt und runzlig aus, eine Illusion, die seine Verletzungen verursachten. Sein Körper war dürrer als der des Jungen auf dem Flur. Erneut bewegte er die Lippen. Eine Träne löste sich aus einem Auge. Kaum hörbar flüsterte er: »Seyha ...« Dann stöhnte er und vergoss weitere Tränen. Sein Gesicht drehte sich nach unten, presste sich in

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