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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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rollte sich ein, schloss die Augen wieder und flüsterte: »Es tut mir leid, was immer ich getan habe. Es tut mir leid, es tut mir leid, bitte, lasst mich in Ruhe, es tut mir leid ...«
    Niemand berührte sie. Ihr Rücken schmerzte vor Anspannung, als sie die Beine noch enger anzog. Vorsichtig öffnete sie ein Auge. Eines der hohen, schwarzen Fenster kennzeichnete das Ende eines Teppichbodens. Kein Strand, kein Altar.
    Zwischen ihr und dem Fenster stand Bill Watts, der seine Frau an den Armen hielt. Sie kreischte und schlug um sich, wie es Gem zuvor getan hatte. Dann versuchte sie sich aus dem Griff ihres Mannes zu befreien. Gem dachte nicht nach, reagierte einfach. Sie rappelte sich auf die Beine, rannte zwei große Schritte und schrie: »Lassen Sie sie zufrieden!« Damit grub sie die Finger in Mr. Watts’ Gesicht. Als er die Hände hob, um ihren Angriff abzuwehren, fiel Seyha Watts bewusstlos zu Boden.
    Als Gem zuvor in ihrem eigenen Wohnzimmer von der Couch gefallen war und sich Joyce vor das halb nackte Mädchen im Dschungel gekniet hatte, stand Seyha Watts starr an einem übel riechenden Ort und wartete, während sich die Schwärze lichtete und anschließend wie Nebel von einem unspürbaren Wind weggeblasen wurde. Sie kannte diesen Ort nicht. Kahle Wände umgaben sie, lindgrün bemalt und dreckig. Sie versuchte, sich nicht zu lange auf eine Stelle zu konzentrieren. Der Gestank jedoch ließ sich nicht verdrängen. Unrat, Fäulnis und ... Sie wollte nach Hause, wollte zurück in ihr mit Teppichen ausgelegtes Heim mit den weißen Wänden, wo sich Bill befand, wo Sonnenlicht durch die Fenster strömte und wo die Spätsommerbrise durch die Insektenschutzgitter wehte. Seyha wollte Tausende Meilen weg von diesem schmutzigen Flur mit seinem Gestank und dem Gebrüll, das sie vor und hinter sich hörte und aus dem unverhohlene Traurigkeit und Furcht sprach. Seyha hob die Hände an die Ohren. Wie es sich für einen guten Albtraum geziemte, dämpfte dies die Geräusche in keiner Weise.
    Warum war sie hier? Nichts an diesem Ort erschien ihr vertraut. Fast nichts. Die mitleiderregenden Stimmen erklangen in einer Sprache, die sie zwar nicht verstand, dennoch wusste sie, dass es sich um Khmer handelte. Die Sprache eines Ortes, der für sie längst gestorben war, aus einer Zeit, von der sie gehofft hatte, sie wäre ebenfalls tot.
    Seyha drehte sich um. Abgesehen von dem Gestank und den Geräuschen erwies sich der Flur als verwaist. Sie musste sich in Bewegung setzen. Was immer sie sehen sollte, was immer sich ihr aufzwingen würde, es würde von selbst über sie kommen. Danach würde sie erwachen, Bill suchen und sich in seinen Armen verstecken, bis die nächste Woge der Schwärze sie verschlang. Wie viele Male würde sie noch hierher kommen müssen?
    »Nicht mehr lange«, sprach ein Mann neben ihr. Seyha stieß einen überraschten Schrei aus und wich an die Wand zu ihrer Linken zurück. Der Mann, der ungezwungen in dem Flur stand, war noch kaum dem Teenageralter entwachsen. Soweit Seyha es beurteilen konnte, war er Kambodschaner. Sein Uniformhemd hing lose über der dürren Brust. Ein nasser, unscheinbarer Fleck prangte an der linken Schulter des Hemds. Anscheinend sah der Junge keine Notwendigkeit, ihn zu säubern. Sein Gesicht war so schmal wie der Rest des Körpers. Die nikotingelben, teils geschwärzten Zähne standen in unschönen Winkeln vor. Ungeachtet dessen wirkte sein Lächeln herzlich, anders als die Grimassen und das Grinsen der Jungen, die Seyhas Mutter getötet hatten.
    »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, Doung Seyha, aber wir haben viel zu tun und wenig Zeit.« Er sprach fließend und akzentfrei Englisch. Der Junge streckte die Hand aus und berührte sie sanft mit den Fingerspitzen am Ellbogen. Seyha zuckte nicht zurück, wenngleich ihr gesamter Körper vor einem leichten Zittern vibrierte. Er führte sie den Flur entlang. Sie sprach kein Wort, da sie vermutete, es wäre ohnehin nutzlos. Erst da erkannte sie überrascht, dass sie ihren Schrei zuvor gehört hatte. Seyha wollte diesem Soldaten nicht folgen, doch sich zu wehren, würde ihren Albtraum nur in die Länge ziehen.
    Der Junge schien nicht die Absicht zu hegen, sie zu verletzen, aber Seyha ließ sich nicht täuschen. Er war der Tod und hatte lediglich diese Gestalt für diesen Augenblick gewählt. Bei anderen Gelegenheiten nahm er viele andere Formen an. Zumeist jedoch präsentierte er sich so, als dürrer Junge in einer zu großen Uniform mit

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