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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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sie um eine Berührung, einen Kuss anflehen, sie mit ihrem Dreck, ihrem Rotz, ihren Tränen besudeln. Das Weinen wurde lauter, bis nichts anderes mehr zu existieren schien als jenes Geräusch und das damit verbundene Elend; sie musste weg, musste flüchten, rennen und rennen und niemals anhalten.
    Seyha stolperte vorwärts und verfluchte ihre Beine dafür, dass sie sich so schwach anfühlten. In ihren Ohren dröhnten die Stimmen, hörten sich nicht mehr wie ein natürliches Geräusch an, eher wie das Tosen von brandenden Wogen unter tausend Düsentriebwerken. An der Tür machte sie sich an dem Seil und dem Bohlenriegel zu schaffen. Der Lärm wurde immer lauter. Seyha begann selbst wieder zu weinen, so sehr sie dagegen ankämpfte. Es war zu laut, zu viel.
    Jede Nacht.
    Als sich die Tür letztlich öffnete, verstärkte sich der Klang des Elends tausendfach, prallte gegen sie, riss ihr die Seele heraus. Die kühlte Nacht bot keine Erlösung. Das Geräusch war überall. Seyha konnte sich nicht bewegen. Eine weitere Wand versperrte ihr den Weg. Zwei große Hände an ihren Armen. Sie drückten sie. Seyha schlug um sich, versuchte, sich zu befreien. Im plötzlichen, grellen Licht eines Supermarktes sah sie Bills bleiches Antlitz vor sich.
    »Seyha! Beruhig dich!«
    Kaum war der Supermarkt erschienen, verschwand er schon wieder, wurde von ihrem Heim ersetzt. Sie war zu Hause. Und wahnsinnig. Verloren.
    Bill ließ sie nicht los. Mochte Gott ihn dafür segnen. Er zog sie an sich, doch zu nah. Sie konnte nicht atmen. Abermals kämpfte Seyha darum, unter einen freien Himmel zu entkommen, von dem sie wusste, dass sie ihn nie wieder erleben würde. Jemand brüllte. Bills Stimme verblasste zu einem winzigen Laut, als er sie losließ. Sie fiel und fiel in eine neue, tiefere Schwärze und landete nie.

ZWEITE NACHT DER FINSTERNIS
    »Gem, hör auf!« Bill packte die Handgelenke des Mädchens und stieß es von sich. Gem stolperte rücklings und stieß gegen den Kaffeetisch, behielt jedoch das Gleichgewicht. Mit vor Wut geröteten Zügen starrte sie ihn an. Was hatte er nur getan, um sie so gegen sich aufzubringen?
    »Lassen Sie sie in Ruhe!«, brüllte sie. Joyce, die das Geschehen mit ausdrucksloser, benommener Miene beobachtet hatte, erhob sich.
    »Gem, was ist denn bloß los mit dir?« Bill wollte sich nicht zu barsch anhören, aber verflucht, sein Gesicht schmerzte. Als er seine rechte Wange berührte, lösten sich seine Fingerspitzen mit kleinen Blutstropfen davon. Gem blickte zwischen ihm und Seyha hin und her. Verwirrt.
    Bill kniete sich neben seine Frau, erwartete fast, das Mädchen würde ihm auf den Rücken springen und den Angriff fortsetzen.
    »Gem«, ertönte Joyces Stimme ruhig. Bill konzentrierte sich auf Seyha. Sie war bewusstlos. Er bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und fürchtete kurz, es könnte etwas Schlimmeres als eine Ohnmacht sein, doch dann stöhnte sie. Sein Gesicht schmerzte immer noch. Was war bloß los mit allen? Erst Seyha, dann die junge Davidson. Seyha schlug die Augen auf, schien ihn jedoch nicht wahrzunehmen. Ihr Blick wirkte verschwommen, aber wenigstens war sie wach. Er flüsterte ihren Namen und wiegte sie sanft auf dem Boden, während er darauf wartete, dass seine Frau zu ihm zurückkehrte.
    Nachdem sich Bill lange genug von ihr gelöst hatte, um im Badezimmerspiegel sein Gesicht zu überprüfen und die Kratzer mit einem Taschentuch abzutupfen – der Arzneischrank, in dem sich die Pflaster befanden, war fest verschlossen, er hatte also Glück, dass er keine brauchte –, kehrte er an Seyhas Seite auf die Couch zurück. Sie sah erschöpft aus und schmiegte sich schlaff unter seinen rechten Arm. Bill wirkte mittlerweile nicht mehr so gefasst. Sein Blick irrte häufig zu seiner Frau, ohne bei ihr zu verharren. Stattdessen wanderte er immer wieder über Teile des Hauses, die er von seinem Platz aus erkennen konnte. Gelegentlich suchte Joyce seinen Blick. Wenn dies geschah, schaute er sofort weg, kurz zu Gem – wo keine Hilfe zu erwarten war – und weiter. Sein Verhalten erinnerte Joyce an die Tage, in denen sie den Katechismus gelehrt hatte – an ein Kind, das sich vor dem Gedanken fürchtete, aufgerufen und mit einer Frage konfrontiert zu werden.
    Ironischerweise war es Seyha, die als Erste das Wort ergriff. Ihre Stimme klang belegt und verträumt. Was immer ihr in der Finsternis widerfahren war, musste schlimmer als alles gewesen sein, was Joyce gesehen hatte; zumindest zeigte es eine

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