Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
mussten vermittelt haben, dass etwas in ihr aufwallte, ein überbordendes Grauen, das sich nicht von dem unterschied, was alle anderen zu unterdrücken versucht hatten. Alles erschien auf den Kopf gestellt, alles schien falsch zu sein. Bill rutschte von der Couch und kauerte sich Gem gegenüber neben ihren Stuhl. Nun knieten zwei Personen wie reuige Sünder vor ihr. Nein, denk das nicht. Denk überhaupt nichts. Einfach nicht denken.
Es war wieder dunkel, und Hände berührten sie. Aber es war keine Finsternis, sondern sie hatte die Augen geschlossen. Der Raum neigte sich. Hinter ihr tat sich eine Kluft auf. Ihr Stuhl fühlte sich an, als schlitterte er über den schrägen Boden auf den Abgrund zu. Sie hatte Ray dazu gebracht zu gehen – das war nicht falsch gewesen. Damit hatte sie ihre Tochter und sich selbst gerettet. Er war der Böse. Er war in der Hölle.
Sie stieß einen kurzen Schrei aus und kniff die Lider fester zusammen. Ich muss damit aufhören. Ich muss aufhören. Bill flüsterte, dass alles in Ordnung sei, streichelte ihren Arm, sprach ihren Namen aus und sagte: »Hier.« Warum sagte er das? Etwas wischte über ihr Gesicht, trocknete Tränen, die sie gar nicht bemerkt hatte. Es half.
»Tut mir leid«, flüsterte sie, vorwiegend zu Gem, weil sie für sie stark sein wollte. Aber es war zu spät. Wenn sie sich tatsächlich in der Hölle befanden, waren sie alle dazu verdammt, abwechselnd zu weinen.
Joyce empfand den Gedanken als komisch. Sie grinste und spürte, wie sich der Raum ein wenig aufrichtete. Trotzdem war sie nicht in der Lage, aufzuhören zu weinen. Sie wollte nicht. Was konnte sie sonst schon tun? Sie war an der Reihe. Ein weiteres Lachen, von dem sie bezweifelte, dass die anderen es hörten. Wieder Hände auf ihr, diesmal ohne Worte, nur die Berührung anderer menschlicher Wesen, die Zuneigung auf die einzige mögliche Weise zeigten. Indem sie hier waren.
Tote taten das nicht.
Gem murmelte: »Entschuldigt mich kurz.« Es folgte ein Druck auf Joyces Bein, als das Mädchen es benutzte, um sich daran abzustützen. Gem stand auf, durchquerte das Zimmer und ging zum Flur. Joyce ließ die Augen geschlossen, zog es vor, noch eine Weile in ihrer eigenen Finsternis auszuharren.
Seyha hörte die Priesterin durch die geschlossene Badezimmertür weinen. Du selbstsüchtiges Miststück , dachte sie, richtete den Tadel gegen sich selbst. O arme Seyha, niemand versteht dich! Und während sich die Gastgeberin auf der Toilette versteckte, weinte im Wohnzimmer Joyce Lindu, eine Frau, die ihr und ihrem Mann stets nur Liebe entgegengebracht hatte.
Seyha ballte die Hände zu Fäusten und presste sie sich an die Schläfen. Dies war nicht ihr Heim. Sie waren im Spiegelkabinett eines Jahrmarkts gefangen und stolperten in Gottes offenen Mund, während er die Zunge herausstreckte und lachte. Seyha konnte weder für Joyce noch für Bill oder sonst jemanden da sein. Und diese dumme Gem hält sich für so klug und erwachsen. Zur Hölle mit ihr. Mit allen.
Seyha sog scharf die Luft ein und hob den Kopf. Was dachte sie da nur? Sie schloss die Augen, versuchte zu beten, Bills Gott um Unterstützung zu bitten. Ihr fehlten die Worte dafür. Der Raum über ihr und rings um sie war leer. Einst hatte sie geglaubt, dass es vielleicht einen Gott geben könnte. Damals, als sie mit Schwester Angelique und Mrs. Tan in der Kapelle gesessen hatte. Beide hatten den Kindern Gebete beigebracht, ihnen die Sakramente erklärt, ihnen Brot und sogar Wein gegeben, als sie alt genug für die Kommunion waren. In jenen Momenten hatte Seyha manchmal geglaubt, Gott könnte real und gütig sein. Immerhin hatte er sie vor den Soldaten gerettet, oder?
Die nächste logische Frage verabsäumte es nie, ihren Verstand und ihr Herz zu verschließen. Seyha brauchte sie nicht einmal mehr bewusst zu denken – sie war zu einem regelrechten Reflex geworden. Für jedes gerettete Kind waren ein Dutzend Mütter und Väter, Schwestern und Brüder getötet, ganze Familien ausgelöscht worden. Wenn Gott real wäre, wenn er größer als das Böse auf der Welt wäre, hätte etwas so Schreckliches ebenso wenig geschehen dürfen wie die Tausenden anderen Tragödien davor und danach. Natürlich würde Bill diesen Punkt bestreiten, doch er war nicht da. Auf der Toilette war nur Platz für eine Person.
Seyha setzte sich aufrechter hin, lehnte sich zurück, streckte die Beine. Nach allem, was ihr im Leben widerfahren war, befand sie sich nun gefangen in ihrem Haus,
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