Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
während die Welt draußen schwarz und tot geworden war. Oder einfach verschwunden war. Ihre Vergangenheit, der irreale Albtraum, der nur in Form von Erinnerungsbrocken existierte, die jede Nacht kurz vor dem Einschlafen aufblitzten, hatte sie letztlich eingeholt. Niemand sonst verstand, was vor sich ging, doch Seyha vermeinte, es zu wissen. Die Roten Khmer, Tod, Folter und endloser Schmerz. All das hatte sie in einem vergessenen, rückständigen Land hinter sich gelassen. Es jagte sie. Der Tod ritt über den Globus, suchte nach Überlebenden. Sie verkörperte die Beute, die entkommen war, aber der Jäger jagte unermüdlich, spürte sie immer auf. Letztlich war ein Netz über sie geworfen worden – und über alle anderen, die das Pech gehabt hatten, sich zu dem Zeitpunkt in ihrer Nähe aufzuhalten. Ein Netz der Finsternis. Sie hätte damals nicht überleben sollen, war jedoch durch das Netz geschlüpft, hatte einen Mann gefunden und war glücklich geworden. All das war anscheinend eine Illusion gewesen, eine List, um sie einzulullen, während sich der Tod anschlich.
Im Augenblick war diese Welt real. Alles andere war ein vergoldetes Trugbild.
Seyha sah sich im Badezimmer um, das sie teilweise mit eigenen Händen gebaut, das sie gestaltet, verfliest und bemalt hatte. Sie war stolz auf diesen kleinen Ort, diese Zelle gewesen. Wenn sie hier bliebe, würden Bill und die anderen vielleicht freigelassen, sobald der Tod den Arm in das Netz streckte und sie fortriss. Seyhas Welt war nicht die der anderen.
Nimm mich , dachte sie inbrünstig. Ich bin es doch, die du willst. Lass die anderen gehen.
Joyce hatte vor einigen Minuten zu weinen aufgehört. Statt ihres Schluchzens vernahm Seyha eine leise Unterhaltung. Auch diese endete bald. Draußen herrschte Stille.
Abgesehen von den Schritten im Flur und dem Klopfen an der Badezimmertür.
Seyha schwieg, bis es ein zweites Mal klopfte. Sie starrte die Tür an und erwartete, eine lange, knochige Hand zu erblicken, die sich darunter hindurchstreckte und über den Fliesenboden auf ihr Bein zukroch.
Seyha schluckte und brachte hervor: »Wer ist da?« So sehr sie wollte, dass die anderen befreit würden, so sehr wünschte sie sich Bill an ihrer Seite. Doch das durfte nie wieder sein. Sie musste alleine bleiben, damit die Finsternis ihn gehen ließe. Dann würde vielleicht ... Sie führte den Gedanken nicht zu Ende. Der Knauf drehte sich, und die Tür öffnete sich. Seyha hatte versucht, sie abzusperren, als sie den Raum betreten hatte, aber wie alles andere hatte das Schloss nicht funktioniert.
Ein Teil von ihr verspürte Erleichterung darüber, dass Bill oder der Tod letztlich zu ihr kam. Als sie sah, wer es stattdessen war, spannte Seyha jeden Muskel an, um den plötzlichen Krampf der Wut zu zügeln.
Gem Davidson stand auf der Schwelle, den Türknauf in der Hand. »Wollen Sie die ganze Nacht hier hocken? Wir müssen zusammenbleiben, falls Sie sich das noch nicht zusammengereimt haben.«
Seyha wirbelte auf dem geschlossenen Toilettensitz zu dem Mädchen herum. »Raus hier. Du hast heute Nacht schon genug Ärger verursacht.«
Gem lachte – das Mädchen lachte tatsächlich! Es war ein höhnischer Laut, wenngleich nicht so mächtig und grausam wie jener der anderen Stimme aus der Finsternis. Dennoch hätte Seyha alles andere als das erwartet.
Gem sah sich im Raum um. »Hübsch. Ich vermute, unter dem Bett ist kein Platz zum Verstecken, richtig?«
Seyha stand auf und legte die Hand flach auf Gems Brust. Bevor sie das Mädchen zurück hinaus auf den Flur schieben konnte, trat Gem vor. Seyha konnte nur zurückweichen oder sie so dicht an sich heranlassen, dass sich ihre Nasen berührt hätten. Sie entschied sich für Ersteres. Ihr Fuß stieß gegen die Badewanne.
Gem schlug ihre Hand weg. »Rühren Sie mich nie wieder an, Lady, es sei denn, ich erlaube es Ihnen.« Zu Seyhas Bestürzung trat Gem mit einem Fuß die Badezimmertür zu und riegelte sie beide vom Rest des Hauses ab. Dann lehnte sich Gem gegen die geschlossene Tür und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Weniger als anderthalb Meter entfernt starrte Mrs. Watts sie an, der olivfarbene Teint vor mühsam gebändigter Wut leicht gerötet. Gem legte so viel Gift in den Tonfall, wie sie konnte. »Was stimmt nicht mit Ihnen?«
Seyha trat einen Schritt vor. Gem versteifte sich, zwang ihren Körper, nicht zu reagieren. Sie würde sich von dieser Frau nicht einschüchtern lassen. Seyha Watts brüllte, achtete
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