Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
Andrew – wohnten zu weit entfernt, um sie mit dem Fahrrad zu besuchen, zumindest in jenem Alter.
Es dauerte lange, bis es Billy gelang, seine Mom dazu zu überreden, ihn in späteren Sommern Ausflüge unternehmen zu lassen. Und selbst dann waren seine Freunde häufig in herrlichen Ferienlagern, die zu teuer für die Watts’ waren, zumal seine Mutter für gewöhnlich nur an den Wochenenden arbeitete. Die meiste Zeit dieser langen, heißen Sommer verbrachte er mit ihr und Monkey, mit Fernsehen und mit dem Warten auf seinen Vater, der zum Abendessen für etwa eine Stunde nach Hause kam, bevor er wieder loszog, um abendliche Pendler aufzugabeln.
Vielleicht durfte er noch eine Weile in dieser Zeit bleiben und konnte seinen Vater wiedersehen. Der Gedanke brachte ihn zum Weinen, entlockte ihm ein ersticktes Schluchzen, das sich in seiner Kehle verfing.
Warum bin ich hier, Gott?
»Billy!«
Seine Mutter sah durch die Insektenschutztür so jung aus. Rasch ging Bill hinüber und stellte sich neben sich, kümmerte sich nicht mehr darum, ob man ihn sehen konnte oder nicht. Mom! , brüllte er. Ich bin’s! Kannst du ... Nein, natürlich konnte sie ihn nicht hören. Er senkte den Blick und kämpfte gegen den Drang an, eines der am Boden liegenden Matchbox -Autos von sich zu treten.
Warum bin ich hier? , wiederholte er.
Der kleine Billy spielte weiter, ignorierte seine Mutter.
Sie kam heraus, wischte sich die Hände am Rock ab. Das tat sie häufig, für gewöhnlich nach dem Zubereiten des Mittag- oder Abendessens, wenngleich sie selten etwas an den Händen hatte. Seine Mutter konnte selbst Brotteig kneten, ohne schmutzig zu werden.
»Was ist denn los, Billy?«, fragte sie und kniete sich neben ihn. »Fühlst du dich nicht wohl?« Der erwachsene Bill setzte sich neben die beiden ins Gras. Es war surreal und wunderschön, seine Mutter und sich selbst so zu sehen. Endlich ein Heimvideo, obendrein in 3D.
»Nein, es geht mir gut. Mir ist bloß langweilig .« Das letzte Wort betonte er übertrieben. Seine Mutter fuhr ihm mit der Hand über das zerzauste Haar.
»Ich weiß. Ich habe vor kurzem mit Andrews Mutter geredet. Sie sagt, morgen kann er den ganzen Tag hier sein. Er ist zwar immer noch für das YMCA -Lager angemeldet, aber sie meint, ab und zu kann er vielleicht trotzdem kommen.«
Billy wirkte nicht überzeugt. »Ich weiß nicht recht. In der Schule redet er von nichts anderem. Nur von diesem Lager. In ein paar Jahren will er Jungscharführer werden. Er wird bestimmt keinen Tag verpassen wollen.«
Ein Lächeln, so wunderschön in dem sonst meist erschöpften Gesicht seiner Mutter. »Na ja, jedenfalls hat sie gesagt, er ist ... wie heißt es noch mal ... ganz ›heiß‹ drauf, morgen herzukommen.«
»Wirklich?« Billys Züge hellten sich auf.
Bill erinnerte sich an diese Szene bruchstückhaft wie an alte Fotos in einem Album. Zu dem Zeitpunkt musste er neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Andrew Brenner kam tatsächlich her, und in jenem Sommer sogar oft. Andernfalls hätte Billy vor Langeweile den Verstand verloren.
Der Junge schien glücklicher zu sein, dennoch ließ er die Augen zu Boden gerichtet. Bill glaubte zu wissen, was als Nächstes kommen würde. Es war eine Unterhaltung, die er mit seiner Mutter – und manchmal mit seinem Vater – nur allzu oft geführt hatte. Als würde sich ein geheimes Schlupfloch offenbaren, das er nützen könnte, wenn er nur immer und immer wieder fragte. Als er seine nächsten Worte hörte, verstand Bill, wie schmerzlich es für seine Mutter gewesen sein musste, sie zu hören.
»Ich wünschte, ich hätte einen Bruder oder eine Schwester. Aber nicht wie Monkey, sondern echt.«
Bill starrte seiner Mutter ins Gesicht, beobachtete, wie darin unzählige Emotionen miteinander rangen. Sie holte Luft, blies sie langsam aus und legte die Hand auf den Kopf des Jungen. »Ich weiß. Aber das ist unmöglich, das weißt du.«
Er wusste es, hatte es schon damals gewusst. Seine Mutter wäre bei seiner Geburt um ein Haar gestorben. Er selbst übrigens auch. Während der Wehen waren Probleme mit ihrer Plazenta aufgetreten – ein unbemerkter fibröser Tumor in der Gebärmutter. Beziehungsweise hatte man ihn während der Schwangerschaft sehr wohl bemerkt, allerdings für einen Zwilling gehalten. Nun, es war kein Zwilling gewesen. Für Bill hatte es überhaupt keine Geschwister gegeben, damals und auch später nicht. Nach der Entbindung, als sich ihr Zustand ausreichend stabilisiert hatte,
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