Plan D
Hülle eines Heißluftballons, aus der auch der letzte Rest Luft entwichen war. Wegener wusste, wo sein Bild dieser Zeit klebte, wo man den zaghaft fröhlichen Gesichtsausdruck, den Haarreifen, die Rostbratwurst, die Häkeltasche heute noch finden konnte, Wohnzimmerschrank Mitte, unterste Schublade, grüner Kunstlederfotoband, vorletzte Seite oben rechts und darunter in der feinen Füllerschrift seiner Mutter:
Ein letztes Mal.
Dort, wo sie damals fliederfarben gelächelt hatte, wuchs das Unkraut jetzt hüfthoch, die thüringische Musterkleinstadt war längst eine thüringische Realitätskleinstadt, beschmierte Kulissenwände, das Holz des Fachwerks gammelte, der Billigputz bröckelte. Wegener merkte, dass er diese verkommene Idylle anstarrte, als sei eine der Bruchbuden sein Elternhaus, als wäre er in diesem Freizeitpark aufgewachsen und nicht in der kanzerogenen Jugendstilwohnung im Prenzlauer Berg. Er versuchte sich vorzustellen, was seine Mutter gedacht, gefühlt hätte, wenn ihr damals vorhergesagt worden wäre, dass ihr Sohn doch noch einmal zurückkehren wird in die eingezäunte Spaßzone des deutschen Sozialismus, nicht mit seinen Kindern, an einem Sommersonntag, sondern in dämmeriger Armageddonatmosphäre, in Begleitung verfassungsfeindlicher Subjekte, der Park nur noch eine Vergnügungsruine, eine bizarre Kunstwelt mit abgebrannten Hütten und verrotteten Eisenbahnwägelchen in halb eingestürzten Geisterbahnhöfen. Nichts ist gruseliger als ein bösartiger Clown, dachte Wegener, und der Plänterwald ist die Heimat aller bösartigen Clowns der Sozialistischen Union, hier hausen die Pennywises in verschimmelten Schießbuden und Losständen, strangulieren jede Nacht achtzehn Obdachlose am Kettenkarussell, baden in dem kilometerlangen, schlauchartig gewundenen Pool, in dem früher die Boote der Wasserbahn vorbeigondelten, und wenn sie auftauchen, tragen sie glitschige Algenfrisuren, lachen aus zahnlosen Mündern und singen Will Herrn Hauptmann nicht betrüben von Manfred Krug.
Seine Bewacher standen stumm hinter ihm, ein verschwiegenes Terzett, das nicht drängelte, drei höfliche junge Menschen, die Ausdauer gelernt hatten, deren Blicke seinem Blick folgten: von der morschen Thüringen-Imitation über hochgeschossene Birken mitten auf dem Marktplatz bis zum Riesenrad, das immer noch in der Parkmitte aufragte, der verstorbene Kinderkönig der Deutschen Demokratischen Republik, ein gigantisches kreisrundes Gerippe, das weithin sichtbare Symbolskelett für den Tod des Kulturparks.
Wegener wandte sich ab, die drei hinter ihm gingen langsam weiter, er folgte ihnen um eine Rechtskurve auf die Wiese des Mesozoikums und konnte sich jetzt selbst sehen, noch früher, 1963, ängstlich an die Mutterhand geklammert, über ihm der graugrüne Tyrannosaurus Rex, dessen rote Augen aus drei Meter Höhe feindselig auf das Getümmel glotzten, der sein Maul aufriss und spitze weiße Haifischzähne präsentierte, ein grausamer Koloss, von dem man wochenlang träumen musste, der Nacht für Nacht alles zerfleischte, was man liebte, und der jetzt besiegt war, mit lächerlich steifen, eingeklappten Vorderärmchen auf der Wiese lag, einbeinig, das zweite Bein ragte als Stumpf aus dem Gras, alles auf der Welt konnte kippen, keine Stärke ist dauerhaft, auch der Gefährlichste findet sich eines Tages mit der Schnauze im Dreck wieder, dachte Wegener und sah in das finstere Dreihorngesicht des Triceratops, der noch stand, den die Zeit verschont hatte, keine Macken im Plastepanzer, nur zwei aufgesprühte silberne Worte: Egonerus Krenzus .
»Das komplette Politbüro«, sagte eine Stimme, die nicht zu seinen Begleitern gehörte, die fuchsiger war, dominanter, lapidarer, die aus einer Entfernung sprach und trotzdem gut zu verstehen war, eine Stimme, von der man sich vorstellen konnte, ihr länger zuzuhören, weil sie klang, als rede sie um nichts drumherum.
Wegener versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Ein kleiner Mann kam durch die Dinosaurierherde auf ihn zu, verschwand kurz hinter einem schwanzlosen Wasauchimmer, war wieder da, ging die letzten Meter langsamer. Der Mond beleuchtete seinen Auftritt mit blassem Halblicht: Schmaler Körper, schmales Gesicht. Anfang vierzig. Strohblonde, gescheitelte Haare. Dunkles Jackett, gelber Pullunder über weißem Hemd. Heller Schal.
»Nett, dass Sie gekommen sind.« Der Kleine gab Wegener eine warme Hand und drückte kurz zu. Er roch nach kaltem Pfeifenrauch. »Gehen wir ein Stück.
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