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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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rollten auf ihn zu, wurden langsamer, der Universal hielt an, der andere kurvte um den Mercedes herum und bohrte sich zwischen die Wände, kratzte Brendel, Frankenstein, den Datschas hinterher.
    Das Licht der vier Scheinwerfer blendete ab. Autotüren klappten. Zwei Männer, eine junge Frau. Keine sichtbaren Waffen.
    Die Maus, dachte Wegener, die Maus aus der Bar International, die geflüchtete Bedienung, aber mit einer anderen Frisur. Statt der langen, schwarzen Perücke raspelkurze Haare.
    »Der Glühwein war beschissen«, sagte Wegener und wusste, was jetzt kam, Abfahrt zur Normannenstraße, ein kahler Raum, zwei Männer und er, die größte Staatssicherheitsbrüllerei seines Lebens, eine verdeckte Operation verhindert, Disziplinarverfahren, nicht länger nur Freistellung, sondern Suspendierung, endlich die Suspendierung. Man weiß vorher nie, wie es ausgeht, hatte Früchtl gesagt und damit bis hierher, bis in die hinterste, dunkelste Ecke des VEB Großschlachterei Renzinghain Recht behalten. Dass deine Karriere eine Sackgasse ist, wusstest du immer, dachte Wegener, dass diese Sackgasse aus Schlachthofwänden besteht, hättest du ahnen können, wo sonst darf man in diesem Staat schneller, sauberer, fließbandmäßiger Todesstrafen verteilen.
    »Kommen Sie bitte mit uns.« Eine Männerstimme.
    Wegener wusste nicht, wer von den beiden Typen gesprochen hatte, und es war ihm auch egal. »Mit wohin?«
    »Mit zu einem Ort, an dem man ungestört reden kann.«
    Der weiße Raum, dachte Wegener, der verfluchte weiße Raum mit der gepolsterten Decke, jetzt schnappt er dich, jetzt servieren sie dich ab und spinnen dich mit ihrer Stille ein, und du hast uns noch den Abschied versaut, Karolina, wir hätten es im Müll treiben können, zwischen Goldkronealtglas und schimmelndem Allerlei, ich hätte deine wasserfallnasse Dose geleckt, bis du gekommen wärst, hätte an deinen hellgrauen Schamlappen gelutscht, an diesen faltigen, fleischigen Kohlblättern, die du zum Glück nie hast verkleinern lassen, ich hätte deinen Kitzlerknubbel mit meiner Zungenspitze gestreichelt bis dein Saft auf den Boden getropft wäre, und dann hätte ich die Pfütze vom Boden geleckt, deine Füße abgelutscht, deinen Arsch, wir hätten alles getan, alles was reingegangen wäre, wie damals, spontan und unvernünftig, hoffnungslos und hemmungslos, aber dein Karrierekopf, deine Angst, deine Lügen haben uns enden lassen wie alle durchschnittlichen Verlierer der Liebe, ausgetrocknet, einsam, stumm, karg, belanglos, unverstanden.
    Hinter der Fabrikhalle krachten Schüsse.
    »Und wer möchte ungestört mit mir reden?« Wegener legte die letzte Kraft in seine Stimme. »Ich bin Hauptmann der Kriminalpolizei, ich habe ein nettes kleines Büro im Präsidium Köpenick. Lassen Sie sich einen Termin geben.«
    »Wir wissen, wer Sie sind und wo Ihr Büro ist.« Einer der Männer öffnete die Beifahrertür des Phobos. Am Wagen keine Kennzeichen. »Aber Alexander Bürger hat etwas gegen Polizeiwachen.«

31
    S eine Mutter stand in ihrem etwas zu engen, fliederfarbenen Kleid vor den verschachtelten Fachwerkhäuschen der namenlosen thüringischen Kleinstadt, in der rechten Hand eine Rostbratwurst, in der linken einen gehäkelten Beutel, aus dem zwei Spreequelle-Flaschenhälse guckten, weiße Sandalen, lila Haarreifen, im Gesicht nicht die Instant-Fotofreude der üblichen Bilder, sondern ein zaghaftes Lächeln, ein aufrichtiger Moment, zufällig festgehalten und ab sofort unvergänglich. Er selbst äugte ausdruckslos, fast gelangweilt in die Kamera, ein fünfzehnjähriger Junge, der seiner Mutter mit dem Besuch im Vergnügungspark Plänterwald eine Freude machen möchte, die Mutter glücklich, der Sohn in gnädiger Geduld. Vertauschte Rollen, der traurige Fotobeweis dafür, dass Kindheiten scharfkantig enden, dass ihre Heiligtümer von einem Tag auf den anderen geschändete Tempel sind, abgestreifte Häute, in die man nie wieder hineinpassen möchte. Zu klein gewordenes Leben.
    1970 waren wir eine Familie, dachte Wegener, 1970 war ich Teil einer Familie; nicht mehr Teil einer Familie zu sein, nie mehr Teil einer Familie zu sein, war 1970 unvorstellbar, das wäre einem Aussterben der Weltbevölkerung gleichgekommen, größtmögliches Zurückgebliebensein, die Einsamkeit des Andreas Jähn in den Weltraumweiten. 1970 standen Vater und Mutter für die Lebensform der Unsterblichkeitswesen, Ewigkeitseltern, ohne die eine eigene Existenz in sich zusammenfallen musste wie die

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