Plan D
nicht weg, du ziehst sie aus und an und kannst an ihren Öffnungen schnuppern, an ihren Drüsen, alles steht zur Verfügung, eine wehrlose, körperwarme, heterotrophe Duftpuppe aus weißem Fleisch.
»Pech gehabt. Ich bin ganz.« Drei Sekunden Stille. »Wir sprechen morgen, ja?«
»Schlaf gut. Wenn du zu Hause bist.«
»Du auch.«
Er drückte die Verbindung weg, steckte das Telefon in die Hosentasche und hatte wacklige Beine, ein Herz, das gerade irre wurde, hellen Dunst im schweren Kopf. Er setzte sich auf die Bordsteinkante. Zwischen den Gehwegplatten Unkraut. Eine zerdrückte Schachtel Duett. Von sechs Laternen brannten vier. Ein Lada bog um die Ecke, röhrte vorbei. Brendel, dachte Wegener und hielt sich mit einer Hand die Nase zu. Wenn Karolinas Besuch Brendel wäre. Das konnte natürlich nicht sein. Sie kannten sich gar nicht, konnten sich nicht kennen. Keinerlei Berührungspunkte. Außerdem stünde der Wagen irgendwo rum. Oder gerade nicht. Brendel wäre ja kaum so blöd, seinen Mercedes direkt vor ihrem Haus zu parken. Wegener fragte sich, ob die Abwesenheit des Mercedes als ausreichendes Indiz für Brendels Anwesenheit in Karolinas Wohnung gewertet werden konnte. Es passte einfach zu gut. Brendel in seinem dunklen Anzug mit sandfarbenem Trenchcoat. Sie in ihrem Kostümchen. Beide perfekt. Makellos. Von einer Schönheit, die man nicht übersehen konnte. Der man sich widmen musste, ob man wollte oder nicht. Vervielfacht durch den Paar-Effekt. Die beiden nebeneinander: Hand in Hand. Lachend. Potenzierte Ausstrahlung. Der Benz-Prinz und seine rote Zora. Eine Liebe ohne Grenzen. Wegener lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. Dann sah er die beiden Glutpunkte. Zwei Raucher in einem Phobos direkt vor Karolinas Tür.
Seine Hosentasche klingelte. Er lehnte sich ein Stück nach hinten und zog das Telefon wieder heraus. Unterdrückte Rufnummer.
»Hallo?«
Am anderen Ende der Leitung Einatmen, Ausatmen. »Herr Wegener?«
»Wer ist da?«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Das tun Sie doch schon.«
»Persönlich.«
»Aha. Worum geht es?«
»Nicht am Telefon.«
Die Männer im Phobos schnippten ihre Zigarettenstummel durch die offenen Fenster. Wegener sprach leiser.
»Wer Sie sind, ist mir egal. Aber ich wüsste gern, worum es geht.« Er stand auf, ging über die Straße auf den Phobos zu.
»Um Hoffmann. Reicht Ihnen das?«
»Das reicht.« Wegener ging schneller. »Wann?«
Der Motor startete.
»Ich melde mich wieder.«
»Wollen Sie mir nicht sage n …«
»Sie können es sich sparen, den Anruf verfolgen zu lassen, ich rufe aus einer Zelle an.«
Wegener lief, aber der Phobos rollte schon, gab Gas, sauste durch die Colombetstraße davon. Zwei Bremslichter, dann war er um die Ecke. Der Anrufer hatte aufgelegt. Das Licht in Karolinas Wohnzimmer brannte. Geruch von altem Frittierfett in der kühlen Abendluft.
Sonntag, 23. Oktober 2011
14
M arx schlürft Coca Cola durch einen rot-weiß gestreiften Strohhalm. Er schließt genießerisch die Augen und bietet Engels einen Schluck an. Engels nimmt die Cola und reicht Marx dafür die Hälfte seines angefangenen Hamburger Roya l TS. Die beiden lächeln. Jetzt trinkt Engels Cola und Marx beißt in Engels Burger. Der gelb-orangene Cheddar-Schmelzkäse zerläuft auf dem heißen Fleisch. Die TS-Sauce tropft, die Zwiebeln knacken. Marx leckt sich glücklich die Finger ab. Eine Szene, die man in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen skurril, abstoßend oder sogar blasphemisch finden mag. Und eine Szene, die auf den Punkt bringt, was die beiden Hälften Deutschlands teilt: unsere Klischees zweier konkurrierender Systeme, deren Antagonismen das Weltgeschehen der letzten einhundert Jahre diktiert haben und die dabei stets als unversöhnliche Wettbewerber um die Gunst der ideologiewilligen Massen gesehen wurden, als irdische Derivate von Himmel oder Hölle, je nach Lesart des jeweils anderen politischen Lagers. Obwohl sich der Kommunismus reinen Glaubens schon mit der Erosion der Sowjetunion in den neunziger Jahren des 20 . Jahrhunderts eine Sterbeurkunde ausgestellt hat; obwohl der Raubtierkapitalismus nach der globalen Finanzkrise kurz vor dem letalen Kollaps steht, hat sich unser Blick auf den dogmatischen Dualismus nicht im Geringsten geändert. Nach wie vor bilden Marktwirtschaft und Sozialismus These und Antithese, deren Synthese niemand zu denken bereit ist. Marx und Engels sollen bis ans Ende ihrer Tage
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