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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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verwandelbar, das man Neugeborenen spritzen könnte, hatte Früchtl gesagt, gern in den Hinterkopf, dann hätte ich mein vermaledeites Leben nicht umsonst gelebt, dann wäre endlich Schluss mit den ewigen Irrwegen jeder neuen Jugend, deren Ideologiewegweiser immer nur nach rechts und links zeigten und niemals geradeaus. Dann hätte mein eigenes Überlaufen und Umdrehen und Hitlergrüßen und Stalinküssen wenigstens einen Zweck gehabt, wäre nicht umsonst gewesen, hatte Früchtl gesagt, Josefs Menschheitsdienst zur Hervorbringung eines Heilmittels gegen die gottverdammte Seuche Redundante Politische Generationendämlichkeit . Dann besäße der große Verlust vielleicht einen kleinen Sinn. Ach, du Kindheit! Du Jugend! Du Mannesalter! Du beste Zeit! Du elende Scheiße!, hatte Früchtl gerufen, solange die eigene Generation beweglich genug gewesen sei, um vor jemandem zu buckeln, habe sie auch gebuckelt, so ausgiebig gebuckelt, bis allesamt einen Buckel bekommen hätten und nun sei die eine Hälfte der Kameraden lange tot, eingegangen an Führern und Verführern des verstorbenen Jahrhunderts, des beschissensten seit Menschengedenken, während die andere Hälfte steif geworden wäre, erstarrt in krummer Demut, für immer verbogen vom gruseligen Untertanengeist, schief und feist und nie gereist. Wenn man im Hirn nur das Ideologiezentrum finden könnte, den Punkt, an dem sich politische Verblendung verdichte, und wenn man da mein Erfahrungsserum reinspritzen könnte, hatte Früchtl geschrien, ampullenweise Weisheit, die im Schädel augenblicklich zur klebrigen Erkenntnis karamellisiere, zur dauerhaftenden Einsicht, wenn man diese Stelle hätte, um sofort das Gelernte abzusaugen, zu kopieren, um die Menschheit zu impfen: dann würden wir uns eine Bürgermenschheit erfinden, von Kindesbeinen an politisch zentriert, die erste schlaue Schöpfung, immun gegen jede Sorte Extremisteneinfluss. Gottes Murks und Früchtls Beitrag. Der Logik nach müsse diese Erkenntnis übrigens weder rechts noch links im Kopf zu finden sein, sondern überaus exakt in der Mitte.
    Ich war Nazi, dann war ich Kommunist, sagte Wegener, setzte die Bierflasche an und trank. Vor eineinhalb Jahren hatte das Minsk noch keine Diktierfunktion, sonst hätte er Major Hacksteak jedes Mal mitgeschnitten, nur ein Knopfdruck und der Alte wäre angesprungen mit seinen Welterklärungen, hätte aus dem Stegreif Volkskammerreden gehalten und Faschisten und Sozialisten gleichermaßen stundenlang mit Dreck beworfen, ohne einmal Luft zu holen, während seine Haushälterin Erna Bock in einer ihrer wild geblümten Schürzen am Herd stand, in Töpfen rührte, köchelte, siebte, brutzelte, würzte, abschmeckte, Abend für Abend die einzige Zuhörerin eines der größten Redner der DDR, Plenum, Volk und Fernsehpublikum in einer geblümten Person. Was für eine Bürde, dachte Wegener. Erna Bock hatte diese Bürde getragen, mit dem gleichen Stolz, mit dem sie ihre Blumenschürzen trug. An den Sonntagen war Wegener zum Ersatzbürdenträger geworden, zum Zweithörer, Hilfskoch, Mitesser. Plötzlich merkte er, wie sehr er diese Stunden in Früchtls verrauchtem Häuschen vermisste. Wie er die Ansprachen, den Bratengeruch, die Blumenschürzen vermisste. Nicht eine einzige Tonaufnahme der anklagenden, dunklen, ironischen Stimme aus dem Sessel besaß er. Dabei hätte man damals nur das Protokollgerät aus dem Präsidium mitnehmen müssen. Nur ein einziges Mal. Wenn man nicht zu blöd dazu gewesen wäre, Gegenwart als Glück zu erkennen. Wenn man nicht immer wieder den stumpfen Fehler beginge, alles, was man liebt, für ewig zu halten, weil einem aus purem Selbstschutz die Fantasie für ein wirklich brutales Verlustausmaß fehlt.
    Ich bin niemand, der sich mit einer Flasche Bier auf einen Friedhof setzt, dachte Wegener, und jetzt sitze ich mit einer Flasche Bier auf einem Friedhof, vor dem efeubewachsenen Elterngrab, und das nicht als verspäteter Totenwächter, sondern weil Karolina um die Ecke wohnt, nur zwei Straßen weiter, und weil der Friedhof immer schon eine simple Rechtfertigung war, um in ihrer Nähe zu sein. Als hätten die Alten das Doppelgrab in Weißensee ausgesucht, damit ihm für alle Zeit unnötige Wege erspart blieben. Eine praktische Trauer-Kombistation: Um Vater, Mutter, Früchtl und Karolina konnte man hier im Paket weinen.
    Wegener fragte sich, was Brendel denken würde, wenn der ihn hier sähe. Brendel, dem es um ein Haar gelungen wäre, das Ledergesicht Wischinsky

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