Plan D
langsamer. Blieb stehen und beugte sich vornüber. Merkte, dass er kippte. Seine Schulter tauchte in den sandigen Weg wie in ein Federbett, er spürte Fichtennadelstiche an der Wange, der Harzgeruch war plötzlich wieder da, das ohrenbetäubende Keuchen war sein eigenes ohrenbetäubendes Keuchen, er atmete keine Luft mehr, sondern Dreck, der Dreck war in ihm, im Magen, in den Adern, er war komplett zugesetzt, eine japsende Mecklenburger Made kurz vorm Kollaps.
Dann kotzte es aus ihm raus. Ein großer warmer Schwall. Und noch ein großer warmer Schwall. Wegener schmeckte Milchkaffee, Magensäure, Tannenzapfen, Sand, Pilze, Erde. Ein dritter Schwall bahnte sich an, platzte ihm aus dem Mund, diesmal schwächer, traf ihn selbst, lief ihm stinkend am Kinn runter.
Er lag auf dem Rücken und hustete. Seine Augen tränten. Vielleicht heulte er auch. Vor lauter Anstrengung. Vor lauter Enge. Vor lauter Karolinavermissen. Das kenne ich, dachte Wegener, dass ich schwach sein muss, um noch schwächer zu werden. Dass nur eine kleine Traurigkeit eine große Trauer auslösen kann. Dass ich wegen irgendwas heulen muss, um wegen Karolina heulen zu können. Dass ich mir wünsche, sie sähe mich so liegen, so selbstgeschwächt, so verloren, so elend, um wenigstens die schale Zärtlichkeit des Mitleids abzugreifen, wenigstens einen bedauernden Blick, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem liebevollen, bewundernden Blick von damals besäße, der für ein paar Sekunden mit diesem Damalsblick verwechselbar sein könnte und in Wahrheit natürlich nur der degenerierte, asoziale Cousin dieses früheren, liebevollen Blicks wäre, aber lieber den degenerierten, asozialen Cousin als gar nichts.
Plötzlich wusste Wegener, dass er nie wieder mit Karolina zusammen sein würde. Vielleicht brauchte er diese Staubwolke, um klar sehen zu können. Es ist alles vorbei, längst vorbei, wird nie wieder was werden, sagte die Wolke. Karolina würde auf keinen Fall an dich denken, wenn sie selbst irgendwo japsend herumläge, sagte die Wolke. Du würdest immer an sie denken, aber sie nie an dich. Karolina würde an jemand anderen denken. Und wenn es keinen anderen gäbe, würde sie zur Not an gar nichts denken. Nur, um nicht an dich denken zu müssen. Du bist tot, sagte die Wolke, sieh doch ein, dass du für sie gestorben bist. Du kennst doch die Wahrheit. Du willst doch immer die Wahrheit kennen und diese Wahrheit hier kennst du, aber die ist dir unangenehm, also egal. Bitteschön. Aber wenn du die Wahrheit ignorierst, musst du sie auch nicht wissen. Dann kann sie dir scheißegal sein, die Wahrheit. Und wenn sie dir scheißegal ist, kannst du sie auch in Ruhe lassen. Entweder, die Wahrheit ist dir wichtig oder nicht. Aber dann darfst du keinen Unterschied machen. Dann kann dir nicht die private Wahrheit unwichtig sein und die berufliche Wahrheit wichtig. Wahrheit ist Wahrheit. Wahrheit ist das, was du nicht ändern kannst. Wahrheit ist das Faktische. Dein Beruf ist es, das Faktische herauszufinden. Auch das Faktische, das dich betrifft. Schließ die Akte Karolina Enders, Fall gelöst, der Schuldige ist der Hauptmann selbst, die Zeugin wird freigesprochen von jeder Verantwortung für das Scheitern der Beziehung. Der Schuldige bekommt trotzdem keine Strafe. Selbst für sein Beziehungsscheitern gesorgt zu haben und jetzt heulend und kotzend auf Waldwegen in Mecklenburg-Vorpommern liegen zu müssen, ist Strafe genug.
Irgendwann verzog sich der Staub. Irgendwann hörte das Husten auf. Irgendwann stand Brendel über ihm, ein Sandmann, der nur den Kopf schüttelte und nichts sagte. Wegener fühlte sich, als hätte dieser Sandmann ihn gerade besiegt.
*
»Hallo?«
»Herr Doktor Braun?«
»Wer spricht?«
»Martin Wegener, Kriminalkommissariat der Volkspolizei Köpenick. Haben Sie eine Minute für mich?«
»Ich habe auch zwei Minuten. Aber nicht viel mehr.«
»Herr Doktor Braun, ich war vorgestern bei Ihnen im Hau s …«
»Der Besuch von Frau Enders.«
»Richtig. Ich habe gehört, das hat für Aufregung gesorgt.«
»Nu, das war eine Visite mit Dienstmarke.«
»Alte Beamtengewohnheit. Die Sache war privat.«
»Frau Enders erzählte davon. Wir hatten ein kurzes Gespräch.«
»Ich hoffe, es gab keinen Ärger.«
»Nu, es gab Irritationen. Wir befinden uns in den Vorbereitungen der Konsultationen. Da haben offenbar einige Mitarbeiter überreagiert.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Herr Borgs hat das auch schon richtig gestellt. Ein Kollege von Ihnen,
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