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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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grell die Brigadestrahler, als wollten sie ganz Berlin mit verspäteten SOS-Signalen kirre machen. Auf Kipplastern stapelten sich Betonbrocken, Drahtgitterfetzen, krumme Rohre. Überreste eines invaliden Titanen. Ein Kran schwenkte seinen knochigen Arm hoch über den Palast der Republik und kreuzte die hellen Säulen des Lichterdoms, die in den dunkelblauen Himmeln wuchsen, als sei nichts passiert.
    Wegener ging in Richtung Absperrung, tauchte in die stumme Schaulustigenmasse ein, die seit sechsunddreißig Stunden nicht kleiner geworden war, die sich andauernd unmerklich erneuerte, die auch in der Nacht nicht schrumpfte, die den angeschossenen Lampenladen umlagerte wie eine schockierte Sekte ihren geschändeten Tempel. In dieser Masse herrschte das Gebot des Schweigens. Hier hatte man sich längst alles erzählt, hatte jeden Satz der Nachrichten zu oft zitiert, hatte sich leerspekuliert und nichts mehr zu sagen. Wegener drückte sich an Männern und Frauen aller Altersgruppen vorbei, das ganze Volk war in repräsentativer Abordnung erschienen, wenn schon kein Loch in der Mauer, dann wenigstens eins im Prozzo, und was für ein Ding, Schätze schweigend den Krater , das Spiel für die ganze ostdeutsche Familie, empfohlen von 9 bis 9 9 Jahre. Die alten Männer trugen immer noch ihre Ushankas, die alten Frauen Tücher und Wollmützen, Hauptsache irgendwas auf dem Kopf, das einen behütet, falls doch mal die Staatspleite vom Himmel fällt. Die Jugend war helle Jeansimitationen und gefälschte Baseballkappen nach wie vor nicht leid, alle Punker sahen mit ihren verunglückten Stachelfrisuren, mit ihrem krampfhaften Wunsch, unbürgerlich zu wirken, genau so affig aus wie vor dreißig Jahren, nichts und niemand hatte sich verändert, Lederjacken mit Nieten, Tennissocken in Slippern und Sandalen, Kunststoffkleider und Plastikjacken mit Pelzkragen. Wegener merkte, er war ein vollwertiges Mitglied dieser Bande. Der Vertreter der Cordhosen-Fraktion. Hier und jetzt ließ sich das nicht mehr ignorieren. Er war sich selbst in die Falle gegangen mit seinem Bad in der Menge. Da half kein Zynismus und keine Hauptmannsstellung, kein Glaube daran, dem dummen Regime mit seinen Kindergartenmethoden, seinem Zuckerbrotkontingent und seinen Peitschenkomitees haushoch überlegen zu sein, es half kein Selbstbildnis als spöttischer Beobachter, als kritischer, unverwundbarer Geist, der nie zu fassen ist, weil er selbst bestimmt, was ihn betrifft und was nicht. Das Regime lügt dich an, dachte Wegener, deine Leute lügen dich an, du selbst lügst dich an. Du bist ein verlogener Angelogener. Du kannst nicht mal Martin Wegener trauen. Du bist wie die pummelige Großmutter vor dir, wie der schnurrbärtige Halbstarke neben dir, wie die pickligen, spitztittigen Mädchen hinter dir, ein Rädchen im Getriebe, eine namenlose Nummer, ein zehnstelliger Aktenvorgang, ein beliebiger Insasse im staatsgroßen Entmündigungsknast, und es gibt tatsächlich nicht den geringsten Grund, dich als etwas Besseres, als etwas Unabhängigeres zu betrachten.
    Wegener wurde plötzlich klar, dass jeder, der hier stand, so dachte wie er. Dass jeder sich selbst rauszog, sich in Gedanken zum lächelnden Außenseiter ernannte, zum seelischen Nichtstaatsbürger, der im Geist geflüchtet war, durch die Spree oder über die Ostsee, und jetzt im Westen lebte, Hirnhausen, Kreis Freiheit. Alle, die hier standen, die ganze Republik, jeder Einzelne hatte den Absprung längst geschafft, hatte sich seit Ewigkeiten verabschiedet vom Vaterland, von der Heimat, vom Traum einer gerechten Gesellschaft, alle um ihn herum hatten schon vor langer Zeit ins gedankliche Exil rübergemacht, gingen seit Jahren mit ausgeräumten Köpfen durch die löchrigen, fettigen, grindigen, zerbröselnden Straßen Berlins, waren rein körperlich anwesend, Golemgenossen, tumbe Befehlsempfänger, die mit ihren hohlen Schädeln nur noch Pelzmützen, Filzhüte, Kopftücher spazieren trugen. Das Land ist leer, dachte Wegener. Wir sind ein Geisterstaat.
    Neben ihm hatte ein Mann sein Minsk aus der Manteltasche geholt und hielt es in Bauchhöhe vor sich, ein M7 stellte Wegener fest, also war der Typ bei der Sicherheit, bei der Regierung oder bei Robotron, oder seine Frau war bei der Sicherheit, bei der Regierung oder bei Robotron. Im Display füllte sich ein Ladebalken, der Kopf von Angelika Unterlauf erschien als Standbild, das Gesicht zuckte, riss den Mund auf und grinste bewegungslos in die Kamera, dann war die

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