Plan D
Anruf von Karolina. Ob Brendel gestern doch bei ihr gewesen war, dachte Wegener. Die Akte MW-B-1101-IV/2010 (Vpb) hatte die Westberliner Kripo von der Stasi bekommen, also kannte Brendel das Leben seines Ossikollegen bis ins Detail, also kannte er auch Karolinas Namen, also kannte er auch ihre Adresse. Vielleicht hatte man sie im Vorfeld überprüft. Als Ministeriumsangestellte war sie die klassische Quelle, die sich bequem unter Druck setzen ließ. Brendel könnte sie über Vergangenheit, Charakter, Angewohnheiten, Schwachstellen ihres Ex-Lebensgefährten ausgehorcht haben. Die beiden lernen sich kennen, bevor er selbst Brendel zum ersten Mal trifft. Man ist sich sympathisch. Man findet sich attraktiv. Kein Wunder. Und man begegnet sich in aller Unverbindlichkeit. Die beste Versicherung gegen postkoitale Komplikationen ist immer noch der 17 0 Kilometer lange Affärentrenner aus Beton, der sich mitten durch die Stadt zieht. Man riskierte nichts. Also konnte man es riskieren.
»Ich hab vielleicht was für Sie aufgetan«, sagte Wegener. »Ein Kollege verkauft ein M6.«
»Da wäre ich dem Kollegen aber dankbar.« Brendel kämmte mit seinem Blick die Böschung. »Kostet?«
»Zwanzig Kilo Ritter Sport Olympia. In unnummerierten Tafeln. Oder eine Tonne Klopapier.«
Brendel grinste. »Schick ich Ihnen rüber.«
Der Weg stieg jetzt langsam an. Dickere Tannenstämme standen in größeren Abständen, dazwischen wuchs braungelbes Gras. Unzählige Brombeersträucher arbeiteten daran, den Wald unter einem Geflecht dorniger Ranken zu ersticken.
»Würden Sie wirklich rübermachen, Martin?« Brendels Blick blieb auf dem Boden. »Wenn sich die Gelegenheit ergäbe?«
»Man denkt immer wieder darüber nach. Aber es ergibt sich keine Gelegenheit. Also weiß man es nicht.«
»Und Ihre Freundin?«
»Macht Karriere.« Wegener merkte, dass er glühte. Der Kaffee kochte wieder hoch, stieg ihm in den Kopf, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Und ist schon seit einem Jahr nicht mehr meine Freundin. Falls Freundin jemals das passende Wort war.«
»Ich habe die privaten Angaben in der Akte übersprungen«, sagte Brendel schnell. »Ich weiß nur, dass Sie zum Zeitpunkt des Disziplinarverfahrens in einer Beziehung waren.«
Ich bin nackt, dachte Wegener. Ich trage eine Unterhose, eine Cordhose, Hemd, Socken, Schuhe, aber ich bin nackt. Nackt laufe ich neben Benz-Brendel durch den Wald. Nackt stehe ich abends in einem trostlosen Hauseingang und schaue hoch zu Karolinas Liebesnest, das einmal unser Liebesnest war. Nackt muss ich meinen bankrotten Staat vor dem Bankrott retten. Nackt haben mich die Angezogenen am liebsten.
»Ihre Ex-Freundin.« Brendel zögerte. »Ist das die Frau, der Sie vertrauen?«
»Wer mich so durchschaut, der sollte du zu mir sagen.«
»Dann tut mir die ganze Sache wirklich leid für dich«, sagte Brendel.
»Tut mir auch leid für mich.«
Wenn er mir jetzt noch einen kumpelhaften Klaps gibt, dachte Wegener, dann weine ich ihm sein 350-Euro-Hemd voll.
»Kayser kennt deine Akte übrigens nicht.«
Wegener nickte. »Danke.«
»Wofür?«
»Dass du es mir erzählt hast.«
Am Ende der Steigung gabelte sich der Weg. Die Pipeline blieb neben dem linken Abzweig, der rechte verschwand in buschigem Gras, krümmte sich, wurde zu einer kleinen Lichtung, auf der ein flaches, heruntergekommenes Holzhaus hockte. Die Sonne hatte sich plötzlich an ihre Aufgabe erinnert, war von irgendwoher erschienen, verwandelte die Lichtung in die Imitation einer heruntergekommenen, skandinavischen Idylle. Grillen zirpten. Von den Bretterwänden des Hauses blätterte dunkelrote Farbe ab. Dachziegel aus getrocknetem Moos. Geschlossene Fensterläden, die einmal weiß gewesen sein mussten. Ein alter Hackklotz faulte neben der Eingangstür vor sich hin. Früher die Schlachtbank und demnächst das Opfer, dachte Wegener. Der Geruch von Harz schlug ihm so kräftig entgegen, als wäre gerade der halbe Wald abgeholzt worden.
»Schön hier«, sagte Brendel. »Und einsam.«
»Vielleicht genau das Richtige für einen einsamen Mann.«
»Ich kriege Hoffmann nicht zusammengesetzt.« Brendel zog die Plastiktüte mit den Schlüsseln aus der Hosentasche. »Diese Hütte passt nicht zu seiner Wohnung. Die Wohnung passt nicht zum Gärtnerjob. Der Gärtnerjob passt nicht zu seinen politischen Schriften. Die politischen Schriften passen nicht zu einer zwanzigjährigen Geliebten. Und dass die Geliebte verschollen ist, passt auch nicht.«
»Und die
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