Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
tiefenpsychologische Gespräche über ihre Beziehung führte – da hielt mir keiner die Ohren zu.
Wir haben Angst, dass ein Leben ohne Gott nicht zu bewältigen ist, und tun alles, was notwendig ist, damit er uns nicht verlässt.
Wir wollen nicht allein sein mit der Finsternis, dem Tod, der Kündigung, dem Scheitern, der spirituellen Leere. Als die Kolonisten im neuen Land und dann später wieder die Pioniere im Westen zum ersten Mal ihr Nachtlager aufschlugen, waren sie allein. Einsamer als je zuvor. Vor ihnen erstreckte sich ein riesiger unbekannter Kontinent voller Gefahren und Unsicherheiten und ohne jedes Sicherheitsnetz. Sie lernten, aufeinander, auf ihre Familie und auf den unsichtbaren Beistand Gottes zu bauen. In Europa braucht man den Beistand Gottes nicht – man hat den Staat, man hat die Zivilisation, man wurzelt in einer uralten sozialen Struktur. Nicht so in Amerika. Dort bildete sich eine Tradition der Gläubigkeit aus, die bis heute nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt hat: Man glaubt, man betet, man findet einen Freund in Jesus.
In den Kolonien und später im Westen wuchsen die Ortschaften rund um die Kirchen – diese waren sozialer Mittelpunkt und Ersatzsozialstaat. Das ist heute noch so: Kirchen leisten soziale Dienste in der Nachbarschaft und unter ihren Mitgliedern, sie fungieren als Sammelpunkt am Abend, große Projekte werden dort besprochen und erste Verantwortungen verteilt. Als Junge war ich fast so oft in der Kirche wie in der Schule. Sonntags hatten wir Jugendabende, Schauspielaufführungen und Familienpicknicks oder wir halfen anderen Mitgliedern bei Umzügen, und meine Mutter brachte ständig einen Auflauf zu irgendeiner Familie, deren Mutter gerade im Krankenhaus war.
Heute ist es schick, nicht zu glauben. Wer nicht glaubt, gilt als kluger Kopf, das allein ist Grund genug für viele. Lange war ich selbst gläubig, dann habe ich meine Kirche verlassen und das Nicht-Glauben kennengelernt, und so kenne ich beide Seiten.
Wenn ich in manchen stillen Momenten sehe, wie wundervoll es ist, hier und jetzt zu leben, im Frühling und im Sommer die Sonne zu genießen oder die Liebe, packt mich manchmal das alte Bedürfnis des gläubigen Menschen, irgendwem dafür zu danken. Ein gläubiger Mensch kann dann ein stilles Gebet des Danks sprechen.
Ein ungläubiger Mensch kann das nicht. Bei wem soll er sich bedanken? Bei der Evolution? Beim Zufall? Der Mensch soll sich doch bedanken können.
Auch wenn ich keine Religion mehr habe und keine mehr will, hoffe ich, dass es einen Gott gibt. Und wenn es mir wirklich gut geht, wenn ich einer Krankheit ausgewichen bin oder einem Auto, wenn der Tag besonders schön war, wenn ich eine Durststrecke überwunden und mich aus der Scheiße herausgearbeitet habe – dann flüstere ich gern ein Gebet, auch wenn ich nicht weiß, wo es ankommt.
Wenn ich mich mit meinen deutschen Freunden über die verrückten amerikanischen Kirchen unterhalte, finden sie die weißen »Sekten« wie Scientology, die Zeugen Jehovas oder die Mormonen befremdlich: Wie kann man so was glauben? Aber die schwarzen Gemeinden, die singen, klatschen, tanzen und die Predigt lebhaft kommentieren – die finden sie putzig. Ich frage sie, warum, und die Antwort lautet etwa so: »Weil es aus Afrika kommt. Das ist Volksglaube, das ist eine uralte Kultur, da muss man tanzen in der Kirche.« Es ist eine merkwürdige Einteilung: schwarz = volkstümlich, weiß = verrückt. Man akzeptiert dieses verrückte Verhalten von Afrikanern, aber von Menschen, deren Vorfahren aus Europa stammen, erwartet man Vernunft.
Nun, in Wahrheit ist es umgekehrt!
Es gibt zwar einige schwarze »Pentacostal«-Gemeinden, doch die Bewegung ist zum größten Teil weiß. Und das Tanzen und Zungenreden gehen höchstwahrscheinlich nicht auf die Traditionen der schwarzen Sklaven zurück, sondern kommen aus England. Ja, man könnte Amerika, vor allem in der Frühzeit, geradezu als Refugium für wirklich abgefahrene europäische Glaubensrichtungen bezeichnen, die in der vernünftigen Alten Welt keine Überlebenschancen hatten und dort längst ausgestorben sind.
Die Anhänger der »United Society of Believers in Christ’s Second Appearing« wurden aus zwei Gründen »Shakers« genannt. Erstens, der Name, den sie sich selber aussuchten, war wirklich zu lang. Zweitens aber, weil sie in ihren Gottesdiensten gern tanzten: meist in Gruppen, eine Art spiritueller Polka. Sie stampften mit den Füßen, zitterten ekstatisch und
Weitere Kostenlose Bücher