Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
drehten sich um die eigene Achse, sangen und redeten in Zungen.
Ihre wichtigste Anführerin, eine Engländerin namens Ann Lee – manchmal liebevoll »Mutter Ann« genannt –, verlor in jungen Jahren vier Kinder und kam nach einer göttlichen Vision zu der Überzeugung, dass alle Sünde ihren Ursprung im Sex hat (keine neue Idee, zugegebenermaßen, sie wurde aber auch nie widerlegt). 1774 immigrierte sie mit nur acht Anhängern nach Amerika, wo sie fleißig predigte, und, oh Wunder, bis 1840 gab es bereits 6.000 von ihnen.
Es ist unklar, was die Leute anzog. Vielleicht das Charismatische – das ekstatische Singen und Tanzen, die ausladenden Emotionen, die so intensiv waren, dass man in Zungen redete. Vielleicht war es das Fortschrittliche – Männer und Frauen waren gleichgestellt, Frauen durften sogar predigen. Wieso auch nicht? Mutter Ann lehrte, dass Gott gleichzeitig Mann und Frau sei. Vielleicht war es das Kommunistische daran: Man lebte in »Familien«, also in großen WG s in einem großen Haus, wo alle alles miteinander teilten. Vielleicht war es ihre Bescheidenheit: Sie waren bekannt als gute Menschen, wahrhaftig und ehrlich und nicht geldgierig, und mit gutem Geschmack gesegnet zudem.
Wie lange es die »Shakers« noch gibt, ist heute eine Frage von Jahren, vielleicht Monaten. 2010 existierten nur noch drei von ihnen, drei Frauen, zu alt, um ihre Tradition sehr viele Jahre fortführen zu können. Dass es sie überhaupt so lange gab, ist deswegen so erstaunlich, weil sie sich nicht auf Nachwuchs verlassen konnten: Unter »Shakern« ist Geschlechtsverkehr verboten.
Na gut, es half, dass sie fleißig Waisenkinder aufnahmen, ihre größte Quelle des Nachwuchses. Als Adoptionen durch Organisationen jedoch verboten wurde, bedeutete das den Todesstoß für sie.
Heute denkt man beim Stichwort »Shaker« meist nur an die stilprägende Kunst ihrer schlichten, atemberaubend schönen Möbel. Doch sie haben Amerika mehr gegeben als bloß gutes Design. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, ob die ekstatischen Gottesdienste der »Pentacostals« direkt auf die »Shaker«-Tradition zurückgehen, aber sie sind es gewesen, die zum ersten Mal die radikale Gleichstellung von Mann und Frau, die starke persönliche Beziehung zu Gott und einen Hang zum Charismatischen sowie überhaupt Religion als Utopie salonfähig machten.
Die »Religious Society of Friends«, genannt Quäker, hatten eine Menge gemeinsam mit ihnen. Auch sie werden heute als eine kleine historische Sekte von Spinnern aus England wahrgenommen, obwohl es noch rund 300.000 auf der Welt gibt, rund ein Drittel davon in Amerika. Ihre radikalste Idee (die sie mit den »Shakern« gemeinsam haben) ist die, dass der Mensch eine persönliche und direkte Beziehung zu Gott haben sollte. Das hört sich harmlos an, hat aber Konsequenzen: Die Quäker lehnten Prediger rundum ab. In ihren so genannten »unprogrammed services« – Gottesdienste ohne Programm – sitzen erst mal alle nur herum und sagen nichts. Wenn einer vom Geist dazu bewegt wird, etwas zu sagen, steht er auf und spricht. Dann setzt er sich wieder hin und schweigt. Am Ende steht einer auf, gibt den anderen die Hand, worauf diese allen anderen auch die Hand geben – und der Gottesdienst ist aus.
Diese Einstellung hat natürlich auch Konsequenzen, was die Autorität der Bibel betrifft. Wenn Gott zu einem durch eine stille Stimme im Herzen spricht (und warum nicht? Er ist Gott – er kann machen, was er will), ist die Bibel nicht mehr sein alleingültiges Wort, sondern bloß eine Offenbarung unter vielen. Das nagte an der Autorität von Predigern: Plötzlich hatte ihre Interpretation der Heiligen Schrift nicht mehr Gewicht als eine x-beliebige andere. Im Grunde führten die Quäker den Job zu Ende, den Martin Luther angefangen hatte: Sie stellten nicht nur die Autorität der katholischen Kirche in Frage, sie stellten einfach jede Autorität in Frage. Es ist kein Wunder, dass viele prominente Kriegs- und Sklavereigegner, Aktivisten wie Joan Baez und die Gründer von Greenpeace Quäker (gewesen) sind – es war vermutlich die erste antiautoritäre Religion der Welt.
Die Quäker, das war Anarchie. Und das passte zum freiheitsliebenden Amerika wie die Faust aufs Auge. Die antiautoritäre Haltung der Amerikaner heute ist zu einem nicht geringen Teil ein Erbe der Quäker: Speziell konservative Christen stellen gern den Staat in Frage oder bezweifeln gar, dass ein Staat überhaupt Gesetze erlassen darf, die mit
Weitere Kostenlose Bücher