Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Batteriesäure und der Tanz mit den tödlichen Schlangen ist zwar illegal, aber die Polizei greift nicht ein – die Welle der Empörung und des Protests wäre schlimmer als die paar Toten im Jahr.
Versteckt am Rande der Zivilisation, in den Bergen der Ozarks und Appalachen, in den Wäldern von Alabama und Kentucky, im Herzen von Georgia und in den weitverstreuten deutschstämmigen Siedlungen im Hinterland von Missouri, gedeiht eine Parallelwelt, die sich »Holiness«- oder »Pentacostal«-Bewegung nennt: Pfingstgemeinden, wie man sie auch in Europa und in vielen anderen Teilen der Welt kennt, hier jedoch geht man weiter als die anderen. Mancher nennt sie »holy rollers«, weil sie im Gottesdienst tanzen und dabei manchmal so in Entzückung geraten, dass sie sich auf dem Boden wälzen.
Die Bewegungen kamen auf, als man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Markus-Evangelium eine interessante Entdeckung machte: »Folgende Zeichen werden die begleiten, die glauben: Sie werden in meinem Namen Dämonen austreiben, sie werden in neuen Sprachen reden, und wenn sie Schlangen anfassen oder etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden; Kranken, denen sie die Hände auflegen, wird es wieder gut gehen.«
Seitdem praktizieren eine Handvoll kleiner, aber erstaunlich zäher Gemeinden regelmäßig »snake-handling«, Zungenreden, Gifttrinken und Handauflegen, manchmal mehrmals die Woche. Dass man mit tödlichen Reptilien umgehen oder Gift trinken kann, ohne zu Schaden zu kommen, ist für diese Gläubigen keine Frage des gesunden Menschenverstandes, sondern die ekstatische Erfahrung des Heiligen Geistes. Es gibt wohl keine emotional intensivere Glaubensrichtung.
Charles Fox Parham, der in Kansas und später in Texas predigte, hat die »Pentacostal«-Bewegung ins Leben gerufen, doch es war sein Schüler, der einäugige schwarze Prediger William J. Seymour, der die Bewegung vor über 100 Jahren populär machte. Er predigte drei Jahre in Los Angeles im so genannten »Azusa Street Revival«. Sein Gottesdienst hatte keinen festgelegten Ablauf, sondern man predigte, heilte, sang gemeinsam, sprach in Zungen und warf sich auf den Boden, falls der Heilige Geist über einen kam. Hier beteten schwarze und weiße Gläubige zusammen, und das bereits zur Zeit der Rassentrennung. Auch viele Frauen entdeckten hier eine Möglichkeit, sich zu entfalten; auffällig viele »Pentacostal«-Kirchen wurden von ihnen gegründet. Es war eine Sensation. Es war ein Glauben, den man mit Händen greifen konnte, der direkt ins Herz ging. Die Medien stürzten sich darauf, immer mehr Leute stießen dazu, wurden vom Fieber angesteckt.
Wer in eine »Pentacostal«-Kirche geht, sucht die Ekstase. In einem Bericht über eine solche Kirche in Alabama erzählte eine alte Dame, dass sie Schlangen »halte«, seitdem sie ein kleines Kind war, und sie beschreibt auch das Gefühl, dem Tod so nah zu sein und trotzdem keine Angst zu haben: »Es ist, als ob man auf der Oberfläche des Wassers schwebt.«
Verbreiteter als das »snake handling« ist das weitaus weniger gefährliche und dennoch emotional erfüllende Zungenreden. In der Ekstase des Gottesdiensts und des Tanzes purzeln ohne Vorwarnung Sätze aus den Gläubigen heraus, die sich oft anhören wie Arabisch oder Hebräisch. Auch diejenigen, die sie äußern, können sie später nicht deuten. Es gibt auch nichts zum Übersetzen: Es sind nur Laute. Was aber für Außenseiter als bizarres Gebrabbel rüberkommt, ist für diejenigen, die es betrifft, eine Zen-artige Erlösung von Sinn und Bedeutung und die Überwindung von Logik und Argument in reinem Gebet. Ein Zungenredner beschrieb die ekstatische Erfahrung als »warmen Honig« und »flüssige Liebe«.
Wir Amis glauben alles! Und wenn es die Religion noch nicht gibt, an die wir glauben wollen, dann gründen wir sie eben.
Europäer nicht. Sie scheinen irgendwie gefangen in einer Art von spirituellem Ennui. Sie würden ja gern glauben, aber was? Einem Katholizismus, der Frauen im Priesteramt zulässt, würden sie möglicherweise beitreten; einem Protestantismus, der nicht gar so dröge daherkommt, vielleicht auch. Aber so was existiert ja nicht. Also kritteln sie an den Staatskirchen rum, kämen aber nie auf den Gedanken, eine neue, bessere Kirche zu gründen: »Ist so was überhaupt erlaubt?« Sie wissen gar nicht, dass man glauben darf, was man will, und das nicht nur im Privaten.
Wir schon. Und das tun wir auch, aber hallo.
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