Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
tun haben wollen: den Atheismus.
Es war einmal, dass ein »Atheist« einfach »jemand, der nicht an Gott glaubt«, war. Heute ist er »jemand, der davon überzeugt ist, dass es keinen Gott gibt, diesen Glauben für sein persönliches Heil und die Zukunft der Menschheit für unabdingbar hält und Sie unbedingt dazu bekehren will«.
Als Reaktion auf das neu entfachte konservative Christentum in den letzten Dekaden ist der Atheismus in Amerika zu einer respektablen Gegenbewegung aufgestiegen. Autoren wie Christopher Hitchens und Richard Dawkins schrieben Bücher über den Irrweg des Glaubens und priesen den Unglauben. Organisationen wie die »American Atheists« finanzierten Plakatwände an Highways und Buswerbung, die die Existenz von Gott verneinen und die Bibel als unwahr oder unmenschlich entlarven sollen.
Was als Protestbewegung begann, artet immer mehr zu einer eigenen Religion aus. Als Alternative zu Weihnachten wurde bereits der »Newton’s Day« erfunden: Man feiert den Geburtstag Isaac Newtons, der praktischerweise auf den 25. Dezember fällt.
2011 erregten sich die Gemüter in Kalifornien, als sich eine Gruppe von Atheisten in die weihnachtlichen Feierlichkeiten einmischte. Seit 60 Jahren ist es in Santa Monica Brauch, im Palisades Park insgesamt 20 Krippenszenen nachzustellen. Welche Kirche die Plätze schmücken darf, wird ausgelost. Also meldeten sich die Atheisten an – und zwar mit so vielen Anträgen, dass die Auslosung ihnen 18 der 20 Plätze zusprach. Die Folge: um die zwei übrig gebliebenen Krippenszenen herum standen 18 Plakate mit Sprüchen drauf wie dem von Thomas Jefferson: »Alle Religionen sind gleich – sie gründen sämtlich auf Fabeln und Mythologien.« Als die Kirchen protestierten, setzten sich die Atheisten mit dem Argument durch, Atheismus sei ebenso ein Glaube und die Stadt dürfe nicht eine Glaubensrichtung einer anderen vorziehen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis irgendwann zum ersten Mal ohne jede Ironie der Satz ausgesprochen wird: »Ich bin gläubiger Atheist.«
Der Glaube gibt uns etwas. Er macht das Leben zu mehr als nur einem Kampf ums Überleben, ums Konsumieren, ums Karrieremachen. Wer mit Schlangen in der Kirche aufwächst und erlebt, wie ein Pastor gebissen wird und nicht nach einem Krankenwagen ruft, sondern die Sache in die Hände Gottes legt, der hat eine andere Beziehung zum Leben als jemand, dessen Gottesbegriff darauf beschränkt ist, auf einem Steuerformular ein Kreuzchen bei »Kirchensteuer« zu machen und Bücher von Margot Käßmann zu lesen.
Wir Amis glauben aus Dutzenden von guten Gründen. Auf manche sind wir stolz, auf andere nicht.
Ich bin in einer sehr gläubigen Familie aufgewachsen und hatte mein ganzes Leben lang mit Gläubigen zu tun. Diese würden es wahrscheinlich selbst gar nicht wahrnehmen, ich aber schon: eine bestimmte Angst.
Dieses Bewusstsein, »nichts ist sicher, alles kann sich ändern, es gibt keine Garantien, keiner kann dich retten«, inspiriert eine tief sitzende Unsicherheit in der amerikanischen Seele, der nur durch den Glauben an etwas Unsichtbares entgegengewirkt werden kann.
Im praktischen Leben wollen wir wissen, wie die Dinge funktionieren: wie man Pflanzen durch Gentechnik optimieren kann, was wir tun müssen, damit ein Kunde mehr kauft. Im spirituellen Leben suchen wir ebenfalls nach Rezepten: Was müssen wir tun, damit Gott uns weiterhin segnet? Damit er uns nicht verlässt? Vor welchen Versuchungen und Verlockungen zum Beispiel sollten wir und unsere Lieben uns unbedingt in Acht nehmen?
Nur so kann ich mir Szenen erklären wie die, die ich als Junge mit meiner großen Schwester erlebt habe: Wir waren im Kino, in einem Film, den sie selbst ausgesucht hatte, irgendein melodramatischer 70er-Jahre-Liebesfilm. Ich war noch ein Kind, sie aber schon erwachsen – und da kam ein Kuss. Aber nicht irgendein Kuss, sondern einer, bei dem selbst ich merkte, es folgt gleich mehr. Und wie! Ein Kampf nämlich: Zwischen mir und meiner Schwester. Zack! flog ihre Hand vor meine Augen. Ebenso schnell zog ich die Hand weg. Zack! Sie hatte zwei Hände, und die zweite war ebenso schnell wie die erste. Ich wand mich im Sitz – Mann, hatte sie lange Arme. Immer wieder klappten ihre Hände über meine Augen, immer wieder kam ich los, aber nicht schnell genug, um zu sehen, was auf der Leinwand passierte. Bis es dann endlich vorbei war. Die langen Szenen, die darauf folgten, in denen das Liebespaar bei endlosen Spaziergängen
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