Plasma City
Tempeltanz in einem Kloster, ist fesselnd – wirbelnde Körper, wehende Gewänder, hervortretende Augen, klingende Zimbeln. Dann folgt ein langer, sanfter und stiller Schwenk über die Beine der Tänzer, die nach der Vorstellung den Platz verlassen und sich an den Seitenwänden eines riesi gen Raums aufstellen. Der Hauptdarsteller Kherzaki sitzt meditierend am Ende, in jeder Hand einen mit Quasten verzierten Gebetsstab. Auf Stirn und Wangen sind in roter und gelber Farbe religiöse Zeichen gemalt. Es entsteht ein langgedehntes Schweigen, bis der Schauspieler wortlos aufsteht und hinausgeht. Das einzige Geräusch ist das Rascheln seiner Gewänder.
Aiah bewundert den Regisseur, der die Stille auf diese Weise einzusetzen weiß. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Chromoplay gesehen hat, das nicht auf schnelle Schnitte und ständige Bewegung gesetzt hätte.
»Mein Vater ist tot, Ehrwürden.« Die ersten Worte, die Kherzaki spricht. Es ist nicht Constantines Stimme, aber sie klingt ähnlich, wie die eines nahen Verwandten. Kherzaki hat eine Ausbildung als Opernsänger genossen und kann seine Stimme entsprechend voll klingen lassen, auch wenn das Timbre etwas anders ist und eher an eine Flüssigkeit als an gehärteten Stahl erinnert.
»Am Ende kehrt alles zum Schild zurück.« So antwortet der Abt, ein weißhaariger Mann, der mit seinem spitzen Kopf und der zwitschernden Stimme an einen Vogel erinnert. Auf seine Stirn ist ein heiliges Symbol gemalt, die Augen sind mit blauen Mascara-Flecken verziert, die ihm etwas Gespenstisches geben.
»Ich muss um die Erlaubnis bitten, an seiner Beerdigung teilzunehmen.«
»Die Erlaubnis sei dir gewährt, mein Sohn«, sagt der Abt.
Kherzaki neigt höflich den Kopf. »Ich möchte Euch außerdem um Euren weisen Rat bitten.«
»Die Weisheit ist nicht die meine«, erwidert der Abt bescheiden. »Ich überbringe nur die Weisheit des Großen Weges der höheren Vollkommenheit.«
»Ich möchte etwas über das Böse erfahren.«
»Das Böse ist ein vergängliches Phänomen, das nicht aus sich selbst heraus existieren kann. Läutere deinen Geist und dein Herz vom Begehren, dann kann das Böse keine Gewalt mehr über dich haben.«
Der Adept ist noch nicht zufrieden. »Aber was ist mit dem äußeren Bösen? Kann es durch Taten überwunden werden?«
»Alles Böse ist vergänglich. Seinem Wesen nach kann es nicht aus sich selbst heraus leben. Keine Tat ist nötig, kein Handeln ist erforderlich.«
Kherzakis Augen funkeln aufgebracht. »Wenn das Böse vergänglich ist, dann liegt die Vergänglichkeit doch darin, dass das Böse sich selbst zerstört und dass diese Zerstörung unvermeidlich ist. Können nicht tugendhafte Menschen diese Selbstzerstörung des Bösen fördern, damit Unschuldige nicht unnötig leiden müssen?«
Der Abt runzelt die Stirn. »Jede Waffe wendet sich gegen den, der sie benutzt, mein Sohn. Jedes Begehren korrumpiert. Jede Tat ist vergeblich. Wenn du denen helfen willst, die leiden, dann lehre sie, ohne Begehren zu leben.«
»Ohne Essen für ihre Kinder zu begehren? Ohne den Wunsch, wieder Hoffnung haben zu können? Ohne Freiheit und Gerechtigkeit für sich zu verlangen, sollen sie leben?«
»So soll es sein.«
Es folgt ein langes Schweigen, schließlich dreht Kherzaki sich um und geht. Der Abt lächelt verwirrt und schlürft seinen Tee.
Doch Kherzaki, inzwischen wieder in seiner Mönchszelle, zerbricht die Gebetsstäbe über dem Knie, verstaut die Gewänder im Schrank, wäscht sich die rituellen Symbole vom Gesicht und geht weg, um eine Revolution zu beginnen.
Das entspricht nicht ganz dem Verlauf der Geschichte. Aiah weiß beispielsweise, dass Constantine die Schule von Radritha schon einige Jahre verlassen hatte, bevor er sich für Cheloki eingesetzt hat. Außerdem hat Constantines Vater unter Hausarrest bis zum darauf folgenden Bürgerkrieg überlebt. Auch die Namen der Figuren im Chromoplay sind erfunden. Kherzaki heißt im Film Clothius, das Kloster ist fiktiv, wenngleich treffend nachgebildet, und Kherzaki kämpft für eine Metropolis namens Lokhamar. Die Verfremdungen sind leicht durchschaubar, erfüllen aber dennoch ihren Zweck, denn das Chromoplay soll nicht die Wirklichkeit, sondern ähnlich einer Oper ein stilisiertes Abbild, eine literarische und künstlerische Bearbeitung der Wirklichkeit vermitteln. Die Taten sind größer als in der Wirklichkeit, die Farben strahlender und die Gesten grandioser, das Schweigen tiefer. Die stilisierte
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