Plasma
Sie aßen Salzchips und Thunfisch, und Newcombe brachte schnell sein Tagebuch auf den neuesten Stand. Cam fiel auf, dass er zweimal auf seine Uhr schaute. Der Mann schien sich an Zeit- und Datumsangaben festzuklammern, und irgendwie verstand Cam das sogar. Diese Zahlen waren zuverlässiger als alles andere auf der Welt.
Nach einer Weile legten sich Ruth und Newcombe wieder hin. Ein Schwarm Helikopter flog unsichtbar durch das Tal – ein fernes Dröhnen. Aber mehr geschah nicht. Die Jäger kamen nie näher.
»Verlass mich nicht«, wisperte Ruth. Ihre schmale Hand berührte Cams Schulter. Er drehte sich um und öffnete im Dunkel die Augen, unsicher, ob er geschlafen hatte oder kurz wach gewesen war. Es überraschte ihn nicht, dass sie sich über ihn beugte.
Er spürte, wie sich die feinen Härchen im Nacken und an den Armen aufrichteten. Es war, als habe er sie erwartet, und ihm dämmerte, dass ihn wieder einmal sein Albtraum heimgesucht hatte, der Albtraum, in dem Erin verblutete und 10 000 Heuschrecken die Sonne verdeckten. Der Himmel jenseits des Kanals war schwarz wie in seinem Traum, und sie befanden sich in genau den gleichen Positionen wie damals er und Erin, sie am Boden liegend und er kniend, nur dass die Rollen diesmal vertauscht waren. In seinem Traum war er an Ruths Stelle gewesen und hatte auf die Geliebte heruntergestarrt, wie sie am Blut ihrer zerfressenen Lungen erstickte.
In Panik setzte sich Cam auf. Die Nacht stand erst am Anfang, und der Himmel war eine dichte schwarze Masse, abgesehen von einem schwachen Schimmern am Horizont, wo der Viertelmond sein Licht verbreitete. Die Wolken mussten näher gekommen sein. Gut. Er spähte zu Newcombe hinüber. Der Mann war nur anderthalb Meter von ihm entfernt, aber in der Finsternis erschien der Abstand größer. Sein Atem ging leise und regelmäßig.
Ruth hatte sich freiwillig für die erste Wache gemeldet. Sie erklärte, sie habe im Boot und später bei ihrer Ankunft im Kanal ausgeruht. Nur deshalb waren Cam und Newcombe auf ihren Vorschlag eingegangen. Im Normalfall ließen die beiden Männer sie die ganze Nacht durchschlafen.
Sie hatte das so gewollt. Sie hatte ihn gewollt.
»Bitte«, sagte sie und legte die Hand wieder auf seine Schulter. Es war der flüchtigste Körperkontakt, den man sich vorstellen konnte, ihr Handschuh auf seiner Jacke. Sie war selbst kaum mehr als ein Schatten, entstellt durch Schutzbrille und Maske, aber Cam erinnerte sich an die Form ihres Mundes und den intelligenten Blick, der ihre rasche Auffassungsgabe verriet.
Sie weiß das nicht, dachte er. Sie kann das nicht wissen. Kein Mensch ahnt, dass ich noch so für jemanden empfinde, weil kein Mensch so für mich empfinden könnte.
Und wenn sie es doch wusste ... Wenn sie spürte, was er für sie empfand, dann würde er sie hassen, weil sie seine Schwäche so ausnutzte.
»Newcombe will hier raus«, flüsterte Ruth. »Ich kann es ihm nicht verdenken, aber er ist nicht durch die gleiche Hölle gegangen wie wir beide. Er weiß nicht, was das bedeutet.«
Cam nickte nachdenklich. Er suchte nach weiteren Gründen, um ihr nahe zu sein, selbst wenn es keine besonders guten Gründe waren, und nicht zum ersten Mal überlegte er, wie sie sich wohl gefühlt hatte, als sie von der Raumstation aus beobachtet hatte, wie der Planet in Finsternis versank. Wie die großen Städte auf jedem Kontinent erloschen und dunkel blieben. Sie hatte auf andere Weise gelitten als er, sie war eher eine Gefangene gewesen als auf der Flucht.
»Verlass mich nicht«, wiederholte sie.
»Bestimmt nicht.« Es war ein Versprechen, obwohl er wusste, dass höchstwahrscheinlich Newcombe die Entscheidung erzwingen würde. Was sonst konnte der Sergeant tun ? Sie einfach gehen lassen? Für Newcombe stand fast genauso viel auf dem Spiel wie für Cam und Ruth. Ohne Ruth oder ihre Unterlagen würde er niemals ein Flugzeug besteigen.
Cam drehte sich noch einmal nach dem Soldaten um, und plötzlich überkam ihn wieder jenes uralte, primitive Gefühl, das er seit dem Mord an Chad Loomas verdrängt hatte – jenem Mann in ihrem Winterlager auf dem Berg, der als Erster Nahrungsmittel gestohlen und versteckt hatte.
Falls es zu einem Kampf kam, dachte Cam, dann war ihm Newcombe in allen Dingen überlegen. Newcombe war stärker. Und er hatte das Sturmgewehr. Anstatt die Sache offen auszutragen, würde Cam nichts anderes übrig bleiben, als ihn von hinten zu erschießen.
Noch bevor die Morgendämmerung heraufzog, setzten sie
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