Plasma
Sie wandte sich ab und starrte dem Wind nach. Weiter südöstlich, auf den Lake Tahoe zu, bildete die Sierra eine hohe, zerklüftete Silhouette, so weit das Auge reichte. Sie hatten die 3000 Meter erreicht, aber nur knapp. Dieser Gipfel ragte als einziger über die Todesgrenze hinaus. Zwischen ihm und den nächsten Bergspitzen erstreckte sich meilenweit flacheres Gelände.
Jetzt am späten Nachmittag wirkte die Entfernung durch die langen Schatten noch viel größer. Auch Ruths Kummer wuchs ins Unermessliche. Plötzlich verzog sie das Gesicht und sackte zusammen, fing den Sturz jedoch mit einem Knie und der gesunden Hand ab.
Cam kniete sich neben ihr hin. »Ruth? Ruth, was hier geschah, liegt eine halbe Ewigkeit zurück«, sagte er, aber das änderte weder etwas an ihrer Erschöpfung noch etwas an ihrer verzweifelten Einsamkeit.
Auf wie viele solcher Inseln würden sie noch stoßen?
All die Mühe vergebens, dachte sie. Und dann, wie mit einer anderen Stimme: Sie haben für nichts und wieder nichts gelitten.
Diese Leute hatten den ersten Winter oder noch länger überstanden. Sie hatten Felsbrocken zu einer Schutzhütte geschichtet und die Kiefern und Latschen unterhalb ihrer winzigen Zufluchtsstätte als Feuerholz gefällt. Jetzt waren sie verschwunden. Es gab sechs Gräber, jedes zu groß für eine einzelne Person. Zwei Leichen lagen in der armseligen kleinen Hütte, weil niemand mehr da gewesen war, um sie zu bestatten.
Ein Messer und ein ganz besonderer Felsbrocken befanden sich zwischen den beiden Toten, ein nahezu runder, mit Kreuzen übersäter Stein. Er hatte dazu gedient, der kleineren Frau den Schädel einzuschlagen. Dann hatte sich allem Anschein nach die letzte Überlebende mit dem Messer die Kehle aufgeschlitzt.
Cam vermutete eine Art religiösen Massenmord. Ruth dagegen hielt die Kreuze für etwas anderes. Sie hatten den Himmel um Errettung angefleht und versucht, ihre Seelen aus diesem Elend zu führen. Eine Krankheit hatte sie dahingerafft. Den Männern war es vielleicht entgangen, weil Vögel die Leichen angefressen hatten, aber ihre dünne, brüchige Haut war aufgebläht und schwarz hinter den Ohren. Sie waren der Maschinenpest entkommen, nur um einer anderen Seuche zu erliegen.
»Wir müssen diese Toten begraben«, sagte Ruth.
Cam nickte. »Okay. Okay. Aber ich sehe nirgendwo eine Schaufel.«
»In einer Stunde ist es dunkel«, drängte Newcombe.
»Wir können sie nicht einfach so liegen lassen.«
»Ich weiß, was wir machen.« Cam trat dicht an die Hütte heran, legte eine Hand auf die Mauer und rüttelte daran. Dann rammte er die Schulter gegen die lose aufgeschichteten Steine. Eine Ecke gab nach. Die meisten Äste, die das Dach stützten, knickten ein. Noch einmal stemmte er sich gegen den Wall, und der Rest fiel in sich zusammen. Die Steine bildeten ein armseliges Hügelgrab, doch mehr konnten sie nicht tun.
»Bitte«, wisperte Ruth. »Bitte, findet irgendwo euren Frieden !« Die Worte galten natürlich nicht diesen Fremden, und im Grunde hatte sie auch nicht um ihretwillen darauf bestanden, sie zur letzten Ruhe zu betten. Es war der Versuch, ein paar ihrer eigenen tiefen Wunden zu heilen.
Als die Schatten länger wurden, stiegen sie ein Stück an der Ostflanke des Berges herab und wanderten auf ein kleines Schneefeld zu. Sie wollten oberhalb der Todesgrenze bleiben, konnten es aber nicht riskieren, sich mit der Krankheit anzustecken, die diese Leute umgebracht hatte.
»Wir sollten unsere Stiefel und Handschuhe gründlich säubern«, meinte Newcombe.
»Wir schrubben sie dort unten ab.« Cam deutete auf die weiße Fläche. »Und wir können etwas von dem Schnee als Trinkwasser verwenden.«
Ruth umklammerte einen der mit Ritzkreuzen versehenen Kiesel. Sie hatte ihn heimlich mitgenommen – und begriff selbst nicht, warum sie das getan hatte. Sie wusste nur, dass sie es nicht geschafft hatte, den Impuls zu unterdrücken. »Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte«, sagte sie. »Alle tot...«
Cam blieb bei ihr, während Newcombe vorausging. »Das wird nicht auf jeder dieser Inseln so sein«, sagte er. »Es muss Überlebende geben.«
»Aber genau das meine ich doch. Das einzig Gute an der Maschinenpest war, dass mit ihrer Verbreitung die meisten anderen Krankheiten ausgerottet wurden. Grippe. Streptokokken. Die Bevölkerung ist zu weit verstreut, um sich gegenseitig anzustecken.«
»Schleppen die Menschen nicht jede Menge von dem Zeug mit sich herum, selbst wenn sie nicht
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