Plasma
erkannte sie, dass er nach Osten deutete. Sie warf einen kurzen Blick auf den Stein in ihrer Faust, zwischen Zweifeln und neuer Hoffnung schwankend.
»Da!«, rief sie und tippte Cam in ihrer Begeisterung kurz an.
Von einem der Gipfel jenseits des Tals – und im gelben Abendlicht nur schwach zu sehen – stieg eine dünne Rauchsäule in den Himmel.
Sie brauchten drei Tage, um ins Tal hinabzusteigen und den anderen Berg zu erklimmen. Einmal erspähten sie im Süden einen schwerfälligen C-130-Hercules-Transporter, der lange Kabel hinter sich herschleppte – eine spezielle Sensorenanordnung, wie Newcombe erklärte. Und ein anderes Mal mussten sie erneut Schlangen ausweichen.
Die Kochfeuer zeigten sich stets am späten Vormittag und dann wieder gegen Sonnenuntergang. Es stand fest, dass sich dort oben jemand befand. Aber wer? Würden sich Soldaten so leichtsinnig verraten?
Cam schlief tief und fest, als Ruth ihn anstieß. Er fuhr erschrocken hoch, spähte in die fahle Mondhelle und ballte die Hand zur Faust.
»Schsch, alles okay«, wisperte sie.
Der Mond hing als schimmernde Sichel über dem Tal, so nahe am Horizont, dass er sich etwa auf gleicher Höhe mit ihnen zu befinden schien. Von den Stämmen des knapp unter 3000 Metern gelegenen Waldes gingen lange Schattenstreifen aus – und die Schatten bewegten sich knarrend. Eine kalte Brise fuhr durch die Wipfel. Die Grashüpfer sangen und sangen und sangen. Rii rii rii rii. Der stumpfsinnige Lärm hob und senkte sich mit dem Wind, füllte jede Pause im Chor der Bäume.
»Alles in Ordnung«, versicherte sie noch einmal.
Er entspannte sich. Seine Maske raschelte, als er den Mund öffnete, aber er sagte nichts, sondern nickte nur. Ruth spürte sein schwaches, heldenhaftes Lächeln. Natürlich gab es jede Menge Dinge, die nicht in Ordnung waren. Die ganze verdammte Welt war aus den Fugen geraten. Vielleicht hatte er genau das entgegnen wollen, aber schon wieder baute sich die Spannung zwischen ihnen auf.
»Tut mir leid«, fuhr Ruth fort. Was? Sie kniete immer noch sehr dicht neben ihm und legte den Kopf weit in den Nacken, um seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken. »Eigentlich soll jetzt Newcombe die Wache übernehmen, aber ich dachte ... ich wollte wieder mal reden. Ohne ihn.« »Mhm.«
Sie hatte sich freiwillig für die Wache während der ersten sechs Nachtstunden gemeldet, weil die Männer am nächsten Morgen den restlichen Weg zum Gipfel ohne sie zurücklegen wollten. Hier unten war sie einigermaßen sicher. Sie wussten, dass sich niemand unterhalb der Todesgrenze befand, während die Lebensinseln in den Höhenlagen alle möglichen Gefahren bergen konnten. Soldaten von Leadville. Krankheiten. Wahnsinn.
Ruth hatte drei Stunden allein im Dunkeln verbracht, ehe sie Cam weckte, drei Stunden allein mit den Insekten und dem Wind. Ihre Gedanken waren von Angst, Trauer und Distanz erfüllt, hier an dieser unsichtbaren Grenze zwischen dem toten Land in der Tiefe, das sich über Tausende von Meilen erstreckte, und ein paar winzigen Flecken, die vielleicht lebenstauglich waren, aber nicht unbedingt Sicherheit boten.
Ihr fehlten die richtigen Worte, um Abschied zu nehmen.
Sie verdankte Cam ihr Leben. Eigentlich hätte sie es schaffen müssen, ihm das zu geben, was er sich so schmerzlich wünschte, auch wenn sie sich nicht wirklich zu ihm hingezogen fühlte. Sie war versucht, es zu tun. Ihre Verlegenheit hatte sich gesteigert, wann immer sie den Rucksack öffnete, um Wasser, Proviant oder eine frische Schutzmaske hervorzuholen. Und sie hatte sorgsam darauf geachtet, dass keiner der Männer die glänzend purpurrote Kondomschachtel zu Gesicht bekam.
Sie brauchte Trost und Wärme, aber Cam machte ihr immer noch Angst. Sie spürte nicht nur seine unterschwellige Bereitschaft zur Gewalt, sondern auch seine mitleiderregende Sehnsucht. Sie hatte Angst, ihm zu nahe zu kommen, weil sie nicht vorhersagen konnte, wie er reagieren mochte. Deshalb saß sie still neben ihm in der wispernden Nacht.
Und da war noch eine Gefahr, die Ruth für sich behalten hatte, weil sie Cam und Newcombe nicht zur Eile drängen wollte. Ihr Forscherteam hatte keine Unterdrucksicherung in die Impf-Nanos eingebaut, damit sie sich nicht selbst zerstörten wie die Pest-Roboter. Doch es gab noch einen weiteren Unterschied. Die Impf-Nanos konnten sich nur vermehren, wenn sie ein bestimmtes Ziel angriffen und zersetzten – ihre Rivalen. Jede Minute, die Ruth und ihre geimpften Gefährten oberhalb der
Weitere Kostenlose Bücher