Platon in Bagdad
zum Besuch des Metochions.
Die Kirche befindet sich auf einem Hügel über dem Goldenen Horn innerhalb einer ausgedehnten Mauerbefestigung, völlig abgeschieden von der tosenden Stadt um sie herum. Der Haupteingang ist mit einem wuchtigen eisenbewehrten Holztor verschlossen. Ich klingelte mehrere Male, und als sich niemand rührte, nahm ich einen Stein und hämmerte an das Tor, bis es sich quietschend öffnete und ein alter Priester mit weißem Bart den Kopf herausstreckte. Ich sprach ihn auf Griechisch an und zeigte ihm das Papier, das ich im Patriarchat erhalten hatte. Er ließ mich ein und ging den Schlüssel zur Kirche holen.
Die Kirche selbst war seit meinem letzten Besuch restauriert worden, doch ansonsten lag innerhalb der Kirchenmauern alles in Trümmern. Eine Ziegenherde graste zwischen umgestürzten Säulen und architektonischen Überresten der früheren Gebäude. Einst stand hier der Palast der Familie Kantakuzenos, Griechen aus Fener, die als Hospodaren unter der Ägide des Sultans die transdanubischen Fürstentümer Moldau und Walachei regierten. Von ihrem Palast stand nur noch die äußere Hülle der Marienkapelle,die Ende des 16. Jahrhunderts Sitz des Patriarchats von Konstantinopel gewesen war.
Nachdem ich mir die Kirche angeschaut hatte, saß ich noch ein wenig mit dem Priester auf dem Hof. Er erzählte mir, dass er in Istanbul geboren sei, dass man ihn aber nach der Priesterweihe nach Jerusalem geschickt habe. Erst kürzlich sei er zurückgekehrt und lebe jetzt in einer Art Ruhestand im Patriarchat von Konstantinopel; seine einzige Pflicht bestehe darin, sich um die Georgskirche zu kümmern. Das Überleben der Kirche inmitten der Ruinen des einstigen Klosters, die nicht von denen des Palasts der Hospodaren zu unterscheiden sind, ist ein unerklärliches Wunder, so wie auch die Bewahrung ihrer Sammlung von antiken Handschriften bis Anfang der 1920er-Jahre, als die nicht gestohlenen Dokumente zur sicheren Verwahrung nach Athen verbracht wurden.
Der Priester war kein besonders gelehrter Mann, und er wusste nichts von den antiken Handschriften, die hier aufbewahrt waren. Ich zeigte ihm die Kopie der letzten Seite des Palimpsests des Archimedes, die ich kurz zuvor heruntergeladen hatte; Einiges davon konnte er lesen, obwohl er die Bedeutung nicht verstand, denn es war alles in mathematischer Sprache. Ich erzählte ihm, dass Archimedes seine Werke im 3. Jahrhundert v. Chr. geschrieben hatte und dass die Seiten in dem Palimpsest vor 1000 Jahren in Konstantinopel von Schreibern abgeschrieben wurden, dass man sie dann im Kloster Mar Saba in Palästina aufbewahrte, bevor sie Anfang des 19. Jahrhunderts hier ins Metochion kamen. Der Priester kannte Mar Saba gut, denn während seiner Jahre in Jerusalem war er mehrere Male dort gewesen. Ich erzählte ihm dann von der Wiederentdeckung der Handschrift im letzten Jahrhundert und davon, wie man in den USA in verschiedenen Forschungslaboratorien an dessen Wiederherstellung arbeitete. Als der Priester meine Geschichte gehört hatte, schüttelte er voller Verwunderung den Kopf und meinte, dass es Gottes Wille gewesen sein müsse, dass diese Meisterwerke der antiken Wissenschaft bewahrt blieben. Ich nickte, alswürde ich ihm zustimmen, und dachte dann an Archimedes selbst und an die Worte, mit denen er seine Abhandlung
Die Methodenlehre
eröffnete:
Archimedes grüßt den Eratosthenes.
Ich habe dir früher einige der von mir gefundenen Lehrsätze übersandt, indem ich nur die Sätze verzeichnete, mit der Aufforderung, die vorläufig nicht gegebenen Beweise zu finden. Die Sätze der dir zugeschickten Theoreme waren folgende …
Und nun haben wir die Beweise für Archimedes’ Theoreme, die über 2000 Jahre lang verloren waren, aus einem Palimpsest wieder zurückgeholt, das seine Zeit über die Schichten der mittelalterlichen byzantinischen, islamischen und lateinischen Welt mit der unsrigen verbindet.
Sei gegrüßt, Archimedes, wir erwarten die nächste Seite Deines Manuskripts.
HARRAN:
DIE STRASSE NACH BAGDAD
G emeinsam mit der Harran-Universität, die 1993 in Urfa in der südöstlichen Türkei gegründet wurde, richtete die Boğaziçi-Universität Anfang Juni 2006 eine Konferenz aus. 35 Kilometer südöstlich von Urfa liegt die antike Stadt Harran, die in der Mitte des 8. Jahrhunderts unter Marwan II. (reg. 744 – 750), dem letzten umayyadischen Kalifen, für kurze Zeit die Hauptstadt des ostislamischen Reiches war. Unter dem abbasidischen Kalifat entstand
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