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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Mutter Audrey haßte, daß sie ihr vorwarf, ihr die Enkelkinder vorzuenthalten; das war zwar nicht falsch, aber andererseits hatten ihre Enkelkinder auch keine große Lust, sie zu besuchen. Unter anderen Umständen hätten sie sich aller dings an sie gewöhnen können; zumindest Angélique, für sie war es noch nicht zu spät. Aber das hätte andere Bedingungen erfordert, ein anderes Leben, Dinge, die sich nur schwer in Erwägung ziehen ließen. Jean-Yves musterte das Gesicht seiner Mutter, ihren grauen Knoten, ihre strengen Züge: Es war schwierig, eine Aufwallung von Zärtlichkeit oder Zuneigung für diese Frau zu empfinden. Solange er sich erinnern konnte, hatte sie nie etwas für Schmusen übrig gehabt, es war ebenso schwierig, sie sich in der Rolle einer sinnlichen Liebhaberin oder eines geilen Luders vorzustellen. Ihm wurde plötzlich klar, daß sich sein Vater vermutlich sein ganzes Leben lang tödlich gelangweilt hatte. Das war ein richtiger Schock für ihn, seine Hände klammerten sich an den Tischrand: Das war nun aber wirklich zu hoffnungslos, zu endgültig. Verzweifelt versuchte er sich an einen Moment zu erinnern, in dem er seinen Vater fröhlich, zufrieden und voller Lebenslust erlebt hatte. Vielleicht hatte es einen gegeben, als er fünf Jahre alt gewesen war und sein Vater versucht hatte, ihm zu zeigen, wie man mit einem Stabilbaukasten umgeht. O ja, sein Vater hatte die Mechanik geliebt, ernsthaft geliebt - er erinnerte sich noch an die Enttäuschung seines Vaters, als er ihm angekündigt hatte, daß er Betriebswirtschaft studieren wolle ; vielleicht reichte das ja doch, um ein Leben auszufüllen.

    Am folgenden Tag machte er einen kurzen Gang durch den Garten, der ihm ehrlich gesagt ziemlich fremd vorkam und keinerlei Kindheitserinnerungen in ihm wachrief. Die Kaninchen hopsten nervös in ihren Ställen herum, sie hatten noch nichts zu fressen bekommen : Seine Mutter würde sie sofort verkaufen, sie wollte sich nicht um sie kümmern. Im Grunde waren sie die wahren Verlierer dieser Angelegenheit, die einzigen wirklichen Opfer dieses Todesfalles. Jean-Yves nahm einen Sack mit Granulat und schüttete eine Handvoll in jede Krippe; zum Gedenken an seinen Vater konnte er diese Geste vollziehen.
        Er fuhr früh zurück, kurz vor der Sendung mit Michel Drukker, aber dennoch geriet er ab Fontainebleau in endlose Staus. Er versuchte verschiedene Radiosender, stellte aber schließlich das Radio ab. Hin und wieder bewegte sich der Strom von Autos ein paar Meter vorwärts; er hörte nur das Summen der Motoren und das Auf treffen einzelner Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Seine Stimmung ließ sich auf diese melancholische Leere ein. Das einzige Positive an diesem Wochenende war, daß er Johanna nicht wiederzusehen brauchte, dachte er; er hatte sich endlich entschlossen, einen anderen Babysitter zu suchen. Die neue, Eucharistie, war ihm von einer Nachbarin empfohlen worden: Sie stammte aus Dahomey, war ein seriöses Mädchen und kam gut in der Schule zurecht, mit fünfzehn ging sie bereits in die zwölfte Klasse. Sie wollte später Ärztin, vielleicht Kinderärztin werden; auf jeden Fall kam sie sehr gut mit den Kindern zurecht. Es gelang ihr, Nicolas seinen Videospielen zu entreißen und ihn vor zehn Uhr ins Bett zu bringen - was noch keiner zuvor geschafft hatte. Sie war nett zu Angélique, sorgte dafür, daß sie nachmittags einen Imbiß bekam, badete sie und spielte mit ihr; die Kleine mochte sie offensichtlich wahnsinnig gern.
        Erschöpft von der Fahrt traf er gegen halb elf zu Hause ein; Audrey war, wie er sich zu erinnern glaubte, übers Wochenende nach Mailand gefahren, sie würde am nächsten Morgen mit dem Flugzeug zurückkommen und gleich vom Flughafen zur Arbeit fahren. Nach der Scheidung würde sie wohl nicht mehr auf so großem Fuß leben können, dachte er mit boshafter Zufriedenheit; daher war es verständlich, daß sie dieses Thema möglichst lange hinausschob. Aber jedenfalls heuchelte sie ihm keine plötzlichen Anwandlungen von Zärtlichkeit und Zuneigung vor, das war etwas, was man ihr zugute halten mußte.
        Eucharistie saß auf dem Sofa und las Das Leben. Gebrauchs anweisung von Georges Perec in einer Taschenbuchausgabe; alles hatte gut geklappt. Sie willigte ein, ein Glas Orangensaft zu trinken ; er selbst schenkte sich einen Cognac ein. Wenn er heim kam, erzählte sie ihm im allgemeinen, wie der Tag verlaufen war und was sie mit den Kindern angefangen hatte; das

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