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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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verge
    wältigten, hörten sie nicht auf, sie zu verspotten und zu beschimpfen, nannten sie eine geile Sau und eine Vögelkiste. Am Ende war niemand anders mehr im Abteil. Schließlich stellten sie sich im Kreis um sie herum, spuckten und pißten sie an, dann versetzten sie ihr Fußtritte und versteckten sie halb unter einer Sitzbank, ehe sie in Ruhe in der Gare de Lyon ausstiegen. Die ersten Fahrgäste stiegen zwei Minuten später ein und benachrichtigten die Polizei, die kurz darauf eintraf. Der Kommissar war nicht sonderlich erstaunt; ihm zufolge hatte sie noch ziemliches Glück gehabt. Es kam häufig vor, daß die Typen, nachdem sie eine Frau vergewaltigt hatten, sie zum Schluß fertigmachten, indem sie ihr eine mit Nägeln gespickte Keule in die Scheide oder in den After rammten. Diese Bahnlinie war als gefährlich eingestuft worden.
        Eine Hausmitteilung forderte die Angestellten zu den üblichen Vorsichtsmaßnahmen auf und hob noch einmal die Tatsache hervor, daß ihnen Taxis zur Verfügung standen, wenn sie bis spätabends arbeiten mußten, und daß die Unkosten dafür in voller Höhe vom Unternehmen erstattet wurden. Der Sicherheitsdienst, der die Gebäude und den Parkplatz der Mitarbeiter überwachte, wurde verstärkt.
        An jenem Abend begleitete Jean-Yves Valérie nach Hause, deren Auto in Reparatur war. Als er sein Büro verließ, warf er einen Blick auf die chaotische Umgebung aus Einzelhäusern, Einkaufszentren, Autobahnkreuzen und Hochhäusern. In der Ferne verlieh die Dunstglocke dem Sonnenuntergang seltsame lilafarbene und grüne Töne. »Es ist merkwürdig«, sagte er, »wir sitzen hier im Schoß des Unternehmens wie wohlgenährte Arbeitstiere. Und draußen warten Raubtiere, und das Leben ist wie in der Wildnis. Ich war einmal in São Paulo, da ist diese Entwicklung bis zu ihrem äußersten Punkt vorangetrieben worden. Das ist keine Stadt mehr, sondern eine Art Ballungsraum, der sich ausdehnt, soweit der Blick reicht, mit Favellas, gigantischen Bürohochhäusern und Luxusvillen, die von Wächtern bewacht
    werden, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Dort leben über zwanzig Millionen Menschen, von denen viele zur Welt kommen, leben und sterben, ohne jemals die Grenzen des Stadtgebiets zu verlassen. Die Straßen dort sind sehr gefährlich, selbst im Auto kann man an einer Ampel überfallen oder von einer motorisierten Bande verfolgt werden: Die am besten ausgerüsteten Banden haben Maschinengewehre und Bazookas. Die Geschäftsleute und die Reichen benutzen als Fortbewegungsmittel ausschließlich Hubschrauber; überall gibt es Landeplätze, auf den Dächern der Bankhochhäuser wie der Wohnkomplexe. Die Straßen und alles, was zu ebener Erde liegt, werden den Armen überlassen - und den Gangstern. «
        Als er die Südautobahn erreichte, fügte er mit leiser Stimme hinzu: »Im Augenblick habe ich Zweifel. Ich habe große Zweifel, ob die Welt, die wir erschaffen, die richtige ist. «

        Ein paar Tage später wiederholte sich das gleiche Gespräch. Nachdem Jean-Yves vor dem Hochhaus in der Avenue de Choisy geparkt hatte, zündete er sich eine Zigarette an, schwieg ein paar Sekunden und wandte sich dann Valérie zu: »Ich mache mir Gedanken um Marylise ... Die Ärzte haben gesagt, sie könne die Arbeit wieder aufnehmen, in gewisser Weise ist sie wieder normal, das stimmt, sie hat keine Nervenkrisen mehr. Aber sie ergreift keinerlei Initiativen, ist wie gelähmt. Jedesmal wenn eine Entscheidung getroffen werden muß, kommt sie zu mir, um mich um Rat zu fragen; und wenn ich nicht da bin, ist sie fähig, stundenlang zu warten, ohne einen Finger zu rühren. Für jemanden, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, geht das einfach nicht, so können wir nicht weitermachen.«
        » Du willst sie doch wohl nicht vor die Tür setzen !«
        Jean-Yves zerdrückte seine Zigarette und starrte lange durch die Scheibe auf den Boulevard; er klammerte sich ans Steuer. Er wirkte immer angespannter, geradezu verstört; Valérie be
    merkte, daß sein Anzug mittlerweile sogar ein paar Flecken aufwies.
        »Ich weiß nicht«, seufzte er schließlich mit Mühe. »Ich habe so was noch nie machen müssen. Sie vor die Tür setzen, nein, das wäre zu gemein; aber wir müssen wohl einen anderen Posten für sie finden, wo sie weniger Entscheidungen zu treffen und weniger Kontakte zu den Leuten hat. Seit ihr das passiert ist, neigt sie außerdem zu rassistischen Reaktionen. Das

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