Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
eingefordert habe. Und im Jahre 1903 sei im Deutschen Reichstag ein Gesetzesentwurf vorgetragen worden, der die Kinderarbeit verbieten sollte.
Was weiß denn so ein Stenz von unserem Lechtal? Kinder, die nicht arbeiten? Das gibt’s doch gar nicht. Wir haben immer gearbeitet. Die Urgroßmutter, der Urgroßvater, die Großmutter, die Mutter auch. Wir alle hatten draußen bei den Deutschen doch zum ersten Mal genug zu essen! Versteht der junge Herr das nicht? Seine Welt ist doch ganz hintrafihr. Aber er hat wohl nie Hunger gelitten, dass ihm schwindlig geworden wär, dass er hätt zittern müssen, dass alles geschmerzt hat.
Ein Amerikaner, sagt der Herr Student, hätte schon 1908 die Sklavenmärkte in Oberschwaben in einer Zeitung besprochen und hat behauptet, dass 1915 die Kindermärkte abgeschafft worden seien. Das hat der Herr Kaplan auch erzählt, aber der Herr Pfarrer hat gemeint, das sei Unfug. Und Unfug sei es auch, dass die Schulpflicht ebenso für ausländische Kinder wie uns gelten solle. Wenn der alte Herr Pfarrer wüsste, dass ich als Föhl schreiben und lesen kann! Der Kaplan hat es mich gelehrt, er hat gesagt, ich hätte Talent zur Schriftstellerei. Das stelle man sich einmal vor: ein Madl wie ich!
Wir wären lebende Anachronismen, hat der junge Herr Student gesagt, und obsolet. Das habe ich gehört, als ich einmal gelauscht habe. Verstanden habe ich es aber nicht. Und dass wir in die Schule müssten, hat der Herr Student gesagt. Und der Herr hat geantwortet, dass der Herr Student nicht ganz richtig im Oberstübchen sei, und mit der Schule würde er uns nicht helfen. Und dass er dieses Jahr ein wenig mehr bezahlen wolle. Ich verstehe oft nicht, was die da reden. Eigentlich versteh ich gar nichts. Ich bin so dumm, und Schriftstellerin werde ich nie.
Irmis Morgen war wie immer, und das war gut so. Bernhard hatte Kaffee gekocht und ihr welchen übrig gelassen. Toastbrotbrösel bedeckten die Anrichte, und das Marmeladenglas stand offen. Dass der kleine Kater immer hochsprang und das Glas am Rand ableckte, sah Irmi mit diebischer Freude. Wenn Bernhard das wüsste, ihn würde es ja grausen. Aber bitte, was verschloss er denn auch nie seine Gläser?
Der große Kater kam herein und warf elegant eine fette Wühlmaus in die Höhe. Gottlob war sie schon in den ewigen Mäusejagdgründen, denn es war ungut, wenn die Kater noch lebende Exemplare losließen, die dann hinter Schränken verschwanden, irgendwann doch verendeten und sich nach einer Weile geruchsmäßig eher unerfreulich präsentierten.
Irmis Alltag daheim war überschaubar, auch das war gut so, denn ihre Fälle waren meist umso verworrener.
Auf ihrem Weg ins Büro kam ein Anruf von Kathi, dass sie etwas später eintreffen werde. Das Soferl hatte verschlafen und jenen Bus verpasst, der die ganze Jahrgangsstufe zu einem Ausflug ins Museum der bayerischen Könige nach Schwangau gefahren hätte. Wozu fuhren die Tiroler Kinder eigentlich zum bayerischen Kini? Wollte man die alten Ressentiments zwischen Tirolern und Bayern wieder aufleben lassen? Kathi jedenfalls musste nun per Auto hinterherdüsen. Irmi beneidete das Soferl nicht. Kathi würde in der ihr eigenen charmanten Art klarstellen, was sie von dem Ganzen hielt. Dabei war Sophia im Gegensatz zur Mama normalerweise eher morgenmunter, hatte wohl nur leider bis zwei in der Frühe vor Facebook gesessen. Irmi wünscht der Aktie den Totalabsturz. Facebook war eine moderne Seuche.
Kollege Hase kam vorbei und präsentierte seine Ergebnisse. Autospuren: ein paar. Fußabdrücke: zuhauf. Die Zuordnung: eine Sisyphusarbeit. Die Gerichtsmedizin hatte auch nur die Kugel entfernen und bestätigen können, dass eine sehr gesunde Frau ums Leben gekommen war. Die Tatzeit wurde auf zwischen halb zehn und halb elf abends geschätzt. Irmi bekam Auskunft über das Kaliber und führte daraufhin ein paar Telefonate. Schließlich lud sie einen Jäger, der am Telefon sehr sympathisch wirkte, ein, einmal bei ihnen vorbeizuschauen. Sie hatte Glück: Seine Zeit ließ das zu, und er versprach, in einer Stunde da zu sein.
Als dann Kathi eine Dreiviertelstunde später eingetroffen war, rief Irmi Andrea, Sailer und Sepp dazu.
»Das Kaliber ist ein .22lr, das steht zumindest hier«, erläuterte Irmi ihren Leuten. »Dieses Kaliber ist gängig bei Jagdwaffen, bei der Bau- und Fallenjagd auf Kleintiere. Es wurde auch ein Schalldämpfer verwendet. Der Schütze kann nicht allzu weit weg gestanden haben. Soweit der Bericht. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher