Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
hat er gewildert. Er wurde ein Gejagter, der dann im November nördlich der Bodenschneid gefunden wurde – er hatte eine Schussverletzung im Rücken, und seine rechte große Zehe steckte im Abzug seines Gewehrs, sein Unterkiefer war zerschmettert. Solche Umstände sind natürlich Steilvorlagen für die Legendenbildung. Die allgemeine Lesart war am Ende, dass der Jagdgehilfe Josef Pföderl ihn ertappt und erschossen hätte. Dem Pföderl wurde aber nie unterstellt, dass er ihn habe töten wollen, nur eben stellen. Der Pföderl bekam acht Monate Gefängnis, hat die Tat aber nie zugegeben. Auch ein Jäger namens Simon Lechenauer war im Gespräch und natürlich die Version, er habe sich schwer verletzt und am Ende selbst erlöst. Egal – der Jennerwein wurde zum Mythos. Und dass an seinem neunundneunzigsten Todestag eine gewilderte Gams an seinem Grabkreuz hing, zeigt, dass Wilderei gesellschaftlich bis heute kein Tabu ist.«
»Aber früher ging es doch wirklich darum, dass die armen Bauern gewildert haben, damit die Kinder mal was anders als Mus oder Brennsuppn zum Beißen hatten«, sagte Kathi, die sich immer noch nicht so ganz geschlagen gab.
»Ja, genau, der Robin-Hood-Schmus, Frau Kommissar, oder? Ursprünglich haben die Bauern tatsächlich ihren Grund vor dem Verbiss schützen und die Fleischration aufbessern wollen. Aber als der Adel dann die Jagd als Vergnügung sah und mit prunkvollen Hofjagden ganze Wälder zusammenschoss, wurden die Bauern und Bürger bestraft, wenn sie jagten. Den undankbaren Job, den Wilderer, Wilddieb oder Wildschütz aufzuspüren, hatten die Forstbeamten. Doch schon damals waren die Wilderer nicht nur arme Schlucker, die Weib und Kinder vom Verhungern bewahren wollten. Sie schossen auch ihre Verfolger nieder, ein Leben zählte wenig, und das von Tieren erst recht nicht. Da wurde nämlich auch nicht immer waidgerecht geschossen, sondern viel mit Schlingen gejagt, in denen die Tiere immer schon elendiglich verreckten! Das sind Ihre Robins!«
»Würde es uns denn weiterhelfen, wenn wir wüssten, ob im Forst der Familie von Braun gewildert wurde? Denken Sie, Regina von Braun kam einem Wilderer in die Quere?«, erkundigte sich Irmi. Allmählich reichten ihr nun doch die langen Monologe des Jägers. So interessant das alles war, sie hatten einen Mord in der Gegenwart aufzuklären, und Jennerwein konnte ihnen im Grunde egal sein.
»Viel spricht dafür, und ich kann Ihnen sagen, dass auch bei den von Brauns gewildert wurde. Die Jagd grenzt an den Staatsforst und an meine Reviere an, die Typen machen vor Grenzen keinen halt. Und die Rechtslage ist auch nicht gerade abschreckend.«
Irmi kam der Elch in den Sinn – und die Rentiere. Sie schauderte. Solche Exoten gäben natürlich eine imposante Trophäe ab, und man würde sich den teuren Ausflug nach Skandinavien sparen. Das war alles so bizarr.
»Kannten Sie Regina von Braun?«, fragte Irmi.
»Natürlich.«
»Und?«
»Sie war sehr gebildet. Sie hat das Rehwild zu ihrer Sache gemacht.«
Auf einmal war er nicht mehr so gesprächig. Vermutlich fiel es ihm leichter, über Tatsachen und Erfahrungen zu referieren, als über Rehe zu sprechen. Als Angestellter der Bayerischen Staatsforsten musste er die Bäume seines Dienstherrn schützen, obwohl er sicherlich nicht der Typ war, der einer »Schädlingsbekämpfung« zustimmte. In seiner Haut wollte Irmi nicht stecken. Sie provozierte ihn aber dennoch.
»Regina von Braun war gegen den Abschuss, und Sie sind dafür!«
»Falsch, wir waren beide für einen waidgerechten Abschuss. Reginas Ziel war es, dem Rehwild so gute natürliche Äsungsmöglichkeiten zu geben, dass es erst gar nicht verbeißt. Und da kommt man früher oder später immer an den Punkt, wo menschliche Eingriffe in die Natur angeprangert werden müssen. Und wo man klarmachen muss, dass man waldbauliche Interessen nicht einfach so über den Tierschutz stellen darf.«
»Und das hat Regina getan?«
»O ja, laut und deutlich.«
»Zu laut?«
»Wer zu leise ist, wird nicht gehört.«
»Und wer zu laut ist?«, insistierte Irmi.
»Regina ließ manches Mal die Diplomatie vermissen. Bisweilen kommt man besser auf Umwegen zum Ziel, aber das war nicht so ihr Ding. Sie war eine sehr interessante Frau, hübsch dazu. Genau das kann zum Problem werden. Wäre sie ein schiacher Besen gewesen oder so ein Mannweib, hätte man sie vielleicht eher angehört. So oder so – jedenfalls mochte sie keine schießwütigen Jäger und die Wilderer
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