Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Stadium. Vielleicht war es ihr aber auch nur darum gegangen, ein ganz persönliches Tagebuch zu führen. Doch weshalb hatte sie das Ganze so gut verborgen?
Hör auf, geheimnisse doch nichts da rein, ermahnte sie sich selbst, wer mag schon sein Tagebuch offen herumliegen lassen? Heute schrieb man sein Tagebuch eben im Netbook. Kinder hatten ja auch schon lange kein Poesiealbum mehr, sondern Freundebücher, in denen man sein Lieblingsessen angeben musste. Eigentlich schade, denn keiner schrieb mehr Sprüche wie einst ihre Lehrerin: »Schiffe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht. Gott ist dein Begleiter, er verlässt dich nicht.« Die Lehrerin hatte nie verstanden, warum sie sich alle hatten ausschütten wollen vor Lachen. Irmi lächelte in sich hinein und las weiter.
Die schönsten Sommer waren die im Klausenwald bei Reutte. Papa und ich waren die ganze Zeit draußen, sprachen über Bergwald, über Schutzwald, über Kiefern und Zirben. Papa machte irgendwelche Versuche mit den Zirben. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber diese Bäume waren so schön. Wir hatten ein kleines Haus, das nur einstöckig war und über einen düsteren Kartoffelkeller verfügte. Mama sagte immer, dass man dort die bösen Gedanken hinuntersperren könne. Aber das Leben war nie düster, in meinem Gedächtnis schien immer die Sonne, was eher unwahrscheinlich ist, aber ich erinnere mich eben nur an Sonnenstunden. Das Haus hatte auf der ganzen Südseite eine Holzveranda, und ich spüre bis heute das warme Holz unter meinen nackten Kinderfüßen.
Wir spielten Kricket auf der Rasenfläche, und weil es so abschüssig war, trafen wir nie die Tore. Mama machte kleine Törtchen aus Johannisbeeren in Eischaum, den man im Ofen goldbraun buk. Der Boden war aus buttrigem Mürbeteig. Ich würde diese Törtchen sofort erkennen, könnte sie heute noch jemand backen. Im letzten Sommer war Mama schwanger und musste sich schonen. Sie lag viel auf der Veranda oder schrieb auf ihrer Schreibmaschine an einem Buch über Gemüseanbau. Sie schrieb ständig, und sie las viel. Wir hatten immer und überall Bücher, und auch unsere Verwalterin hegte eine große Begeisterung für Bücher. Sie besaß welche in altdeutscher Schrift und lehrte mich, diese zu lesen. Später lernte ich sogar die altdeutsche Schreibschrift.
Bis heute trage ich das Bild von meiner Mama als Arcimboldo-Frau im Herzen. Ich sehe sie immer und immer wieder inmitten von Gemüse: bunt und opulent.
Irmi konnte sich das alles bildlich vorstellen. Auf einmal war ihr schwer ums Herz. Hätte sie nicht auch genug zu erzählen aus ihrer Kindheit? Dabei war ihre Jugend auf dem kleinen Bauernhof gar nicht sonderlich spektakulär gewesen. Mit zwanzig hatte sie nicht das Gefühl gehabt, etwas bewahren zu müssen. Heute schon. Je mehr sie von Reginas Fragmenten las, desto sicherer war sie sich, dass das Ganze sehr wohl ein Buch werden sollte. Schon in diesem unfertigen Stadium gelang es Regina, von den Erinnerungen aus ihrer Mädchenzeit allmählich überzuleiten zu ihrer Sichtweise der Dinge so viele Jahre später. Und die malten kein heiteres Bild einer Waldkindheit mehr. Regina klagte an. Die Geschichte der von Braun wurde immer bitterer.
Im Juni kamen wir im Klausenwald an. Ich ging noch nicht zur Schule, das Leben war frei. Papa fuhr viel nach Innsbruck. Einmal nahm er mich mit, und wir fuhren mit der Eisenbahn auf die Nordkette. Ich weiß, dass ich Angst hatte, es ihm gegenüber aber nicht zeigen wollte. Mama war oft sehr müde, und ich dachte, dass Papa eigentlich bei ihr bleiben müsste. Aber sie meinte, das läge nur daran, dass ich ein Geschwisterchen bekäme. Ich fand diese Information erst gar nicht so gut. Wozu brauchte ich ein Geschwisterchen? Ich hatte den Wald, ich hatte die Tiere. Wir hatten Doktor Faustus und Mephisto dabei, unsere beiden Jagdhunde. Wir hatten die Sommerkatzen, die stets einige Tage nach uns auftauchten und den Sommer über blieben, weil bei uns das Speisenangebot besser war als auf den Bauernhöfen, von denen sie kamen. Außerdem fand ich das Geschwisterchen nicht sonderlich lieb, wenn es die Mutter krank machte. Mama erklärte mir, dass sie erst kürzlich gemerkt habe, dass sie schwanger sei, und dass das Baby Ende September käme. Weil es ihr manchmal richtig schlecht ging, fuhr sie nach Reutte zum Arzt und kam immer noch müder zurück. Ich hörte die Eltern wispern, das sei eben eine etwas schwierigere Schwangerschaft, dafür sei es mit mir ja so problemlos
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