Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
verlaufen.
Im September war Mama so elend, dass die Abreise beschlossen wurde. Ein großer Krankenwagen kam und fuhr sie nach Ulm. Ich wollte mit, aber ich sollte bei Helga bleiben. Die Mama sah ich erst wieder, als sie in der Gutskapelle aufgebahrt war. Mein kleiner Bruder war winzig, und damals begriff ich gar nicht, warum Helga nur noch weinte und Bartl immer grimmiger wurde und der Papa gar nichts mehr sprach. Der kleine Robert war ein sehr stilles Kind. Und obwohl ich kein Geschwisterchen hatte haben wollen, wuchs er mir sehr ans Herz.
Regina schwenkte nun von den direkten Kindheitserinnerungen auf eine Kommentarebene. Reginas Mutter hatte während der Schwangerschaft wohl häufig einen Frauenarzt namens Dr. Josef Wallner in Reutte aufgesucht. Zu dieser Zeit war Hieronymus von Braun in ein Forschungsprojekt der Uni Innsbruck eingebunden gewesen, wo es um Schutzwaldsanierung gegangen war. Gut Glückstein wussten die von Brauns bei Helga und Bartl in guten Händen. Erst als es Margarethe von Braun extrem schlecht ging, war man heimgefahren. Die Verlegung nach Ulm ins Krankenhaus kam zu spät: Reginas Mutter starb bei der Geburt, Robert von Braun kam behindert zur Welt. Regina hatte herausgefunden, dass Dr. Wallner in Reutte die typischen Symptome einer Schwangerschaftsvergiftung – Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Übelkeit – nicht ernst genommen hatte. Als Weiberkram hatte er das abgetan. Nicht so anstellen sollte sie sich. Das Kind war im Mutterleib unterversorgt gewesen und war letztlich viel zu früh auf die Welt gekommen. Bei Reginas Mutter hatte die Schwangerschaftsvergiftung zu einer Plazentaablösung geführt, in deren Folge sie bei der Entbindung gestorben war, obwohl die Ärzte um ihr Leben gerungen hatten.
Irmi hatte das dritte Bier geöffnet, dabei trank sie sonst nie mehr als eine Halbe. Aber das Geschriebene zog sie so in den Bann, dass sie beinahe mechanisch trank. Aus Reginas Aufzeichnungen ging hervor, dass ihre Mutter keineswegs hätte sterben müssen. Der Frauenarzt in Reutte hatte ihre Befürchtungen einfach nicht ernst genommen, sondern heruntergespielt und behauptet, dass alles in Ordnung sei. Viele Jahre später hatte Regina Helga und Bartl gelöchert, sie hatte ihren Vater zu den Vorfällen damals befragt, sie hatte akribisch recherchiert. Die Quintessenz für Regina war klar ersichtlich: Ihre Mutter hatte wegen des selbstgerechten Dr. Wallner sterben müssen.
Irmi rauchte der Kopf. Die letzte kurze Passage, die Irmi las, brannte sich fest ein.
» Über das Schreiben hat Mama einmal gesagt: Es ist falsch, dass Schreiben Therapie ist. Schreiben heilt nicht alle Wunden. Aber es setzt ein gewisser Verdünnungseffekt ein. Schmerzliches, das man kaum zu überleben glaubt, verdünnt sich zu einem chronischen Schmerz, den man aushalten kann.«
So recht konnte Irmi das alles nicht verstehen. Das Außerfern lag doch quasi vor ihrer Haustür. Sie fuhren zum Tanken nach Ehrwald und öfter nach Reutte zum Hofer, weil Bernhard die Mozartkugeln von dort so liebte. Irmi kaufte Dosensuppen – Leberknödel und Kartoffelsuppe – und schämte sich immer ein bisschen, dass sie so gar keine Hausfrau war. Am Plansee waren Leute aus ihrer Clique zum Windsurfen gewesen, weil es dort thermische Winde gab – das war ihre Sicht auf Reutte gewesen. Was Regina von Braun da schrieb, erinnerte ans Mittelalter, dabei hatte es sich 1974 abgespielt.
Besonders interessant war, dass Regina im Verlauf ihres Schreibens offenbar auf weitere Fälle gestoßen war, in denen sich Dr. Wallner in Reutte grobe Fehler geleistet hatte. Unter anderem ging es um Abtreibungen wegen eindeutiger medizinischer Indikationen, die aber nie vorgenommen worden waren. Regina von Braun klagte auch andere Frauen an, die nicht gewagt hatten, sich gegen den Gynäkologen auszusprechen. Irmi stieß auf die Protokolle eines Gesprächs zwischen Regina und einer Wiener Journalistin, die damals beim ORF gearbeitet und nach Frauen gesucht hatte, die über das menschenunwürdige Tun des Mediziners hätten berichten wollen. Sie hatte damals sogar einen Übertragungswagen angefordert, aber dann waren die anderen Frauen umgefallen. Keine wollte mehr etwas über ihre Lebens- oder Leidensgeschichte erzählen. Regina hatte sich vor allem über eine gewisse Elisabeth Storf geärgert, die das Interview komplett torpediert hatte.
Irmi spielte nervös am Schnappverschluss ihrer Bierflasche. Regina hatte viel in ihr Klapp geschrieben. Sicher hatte Robbie sie
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