Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
die Dreifelderwirtschaft aufgab. Man versprach sich von einem Hof, der mitten im Grünen lag, Zeitersparnis beim Austreiben der Kühe. Aber man brauchte eben mehr Hütekinder und Melker. Die Kinder aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden waren jung, verschreckt, ungebildet. Die muckten nicht auf. Und sie waren katholisch. Es gab nämlich durchaus Saisonarbeiter aus dem schwäbischen Unterland, aber die wären teurer gewesen, und außerdem waren das böse Andersgläubige, das waren die Evangelischen!«
»Aber wir reden von den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts und nicht vom 18. oder 19. Jahrhundert. Waren da die Protestanten noch solch ein Schreckgespenst?«
»Irmi, du lebst in einer Region, da sind sie das bis heute! Du lebst in einer Region, wo bis heute schöngeredet und totgeschwiegen wird. Damals war keine Rede von den Kindern, die auf der Wanderung starben im frühen Wintereinbruch. Keine Rede von den Schlägen und der Entmündigung, keine Rede von den sexuellen Übergriffen, und da sind wir uns doch einig: In dieser großartigen Tradition steht die katholische Kirche bis heute.«
Irmi dachte an Ettal und schwieg.
»Anfang des 20. Jahrhunderts wollte das bischöfliche Ordinariat in Brixen einmal Rückmeldung haben von seinen Seelsorgern und wissen, wie es denn um das Wohl der Kinder stehe. Aber es ging denen nicht um deren Wohl im Sinne von körperlichen oder seelischen Beschwerden. Nein, es ging nur darum, inwieweit sie in ihrem Katholizismus gefährdet waren. Vor der Abreise und bei der Ankunft musste jedes Kind zuerst zur Beichte. Stell dir mal vor, es hätte ungebührlich Kontakt zu Protestanten oder Sozialisten oder beidem gehabt. Die Kinder sind mit dem Spruch groß geworden: Bete, nimm ein Weihwasser, und geh ins Bett. Das war das Rezept gegen Magenknurren.«
Irmi nippte wieder am Wein, dann am Wasser. »Und keiner hat je hingesehen?«
»Die Kirche sicher nicht. Die reichen Lechtaler Handelsleute lieber auch nicht. Sie spendeten lieber großzügig an die Kirchen. Um ein paar arme Bauernkinder ging es im Lauf der Welt doch nicht.
»Puh!«, machte Irmi, mehr fiel ihr dazu momentan nicht ein. Sie hatte diese Schilderung des Mädchens vor Augen, wie es fast in der Schneewächte umgekommen wäre.
»Nun, ich will nicht ungerecht sein, es gab in der Tat ein paar niedrige, oft junge Geistliche, die die Tragik dieser Kinderwanderung verstanden haben. 1890 wurde ein Hütekinderverein gegründet, der diese Kinder betreute. Aber 1890 war der Höhepunkt dieser Wanderung ja längst überschritten. In der US-amerikanischen Presse gab es 1908 eine Kampagne, die den Kindermarkt in Friedrichshafen einem Sklavenmarkt gleichsetzte – insofern etwas pikant, als man ja die in dieser Hinsicht nicht gerade ruhmreiche Geschichte der USA kennt. Man diskutierte sogar in Berlin darüber, den Kindern vor Ort half das alles nichts.« Er nahm einen Schluck Wein und meinte dann: »Wenn du wirklich ein Tagebuch eines Schwabenkinds aus den Dreißigerjahren hast, ist das sensationell!«
»Ich habe nur die Scans.«
»Schade, das Original wäre mir lieber.«
»Und ich esse jetzt Käse und werde noch fetter«, sagte Irmi und fand sich schon wieder so unhöflich. Hatte sie ihn etwa abgewürgt?
»Du bist nicht fett. Madame, darf ich Sie zum Büfett geleiten?«
»Ich bitte darum.«
Es war halb elf, als sie aufstanden. Sie hatten noch mit dem Besitzer geplaudert und mit seiner Frau, die Irmi sehr gut gefiel. Eine zupackende Frau, ein bisschen krachert vielleicht, aber wohltuend für so ein Vier-Sterne-Haus. Und wieder mal hatte Irmi den Eindruck, dass Frauen mit etwas mehr Substanz im Umgang einfach weniger zickig waren. Irmi fühlte sich auch nicht als seine ›Geliebte‹, niemand schien sich über ihre Anwesenheit zu wundern. Er war hier so eine Art ›Freund des Hauses‹ und als solcher noch in den Weinkeller eingeladen, wo der Chef ein paar Raritäten kredenzte.
Sein Zimmer war groß. Irmi trat ans Fenster. Noch immer erhellte der Mond die Berge und den See. Er war hinter sie getreten und tat erst mal nichts. Irgendwann schob er ganz vorsichtig eine Haarsträhne zur Seite und küsste sie auf den Hals. Ihr war klar, was nun kommen würde, und für einen Moment wäre es Irmi lieber gewesen, einfach nur zu knutschen, zusammen auf der Couch zu sitzen und fernzusehen. Sie war einfach nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sie traf sich mit ihrem Lover – und wollte bloß knutschen. Sie kannte genug Frauen, die etwas drum gegeben
Weitere Kostenlose Bücher