Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Jahr, nachdem Jürgen weggegangen war – sie suchte eine Mülltüte und fand die Zikihülle. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihm den Reißverschluss aufzuziehen, dachte sie. Vielleicht. Bei solchen Dingen lässt sich das schwer mit Sicherheit sagen. Am gleichen Abend fiel ihr beim Zähneputzen wieder dieser Kuss ein, mit dem Stich. Sie spülte sich den Mund mit viel Wasser aus und schaute in den Spiegel. Ihr war eine Narbe davon geblieben, und als sie sie aus der Nähe untersuchte, entdeckte sie unter ihrer Zunge einen kleinen Reißverschluss. Ella streckte zögernd eine Hand danach aus. Sie versuchte sich auszumalen, wie sie im Innern sein würde. Es erfüllte sie mit einer Menge Hoffnung, allerdings auch mit nicht gerade wenig Furcht, hauptsächlich vor sommersprossigen Händen und trockener Gesichtshaut. Vielleicht würde sie eine Tätowierung haben, dachte sie. Eine Rose. Sie hatte sich schon immer eine machen lassen wollen, jedoch nie den Mut dazu gehabt. Es schien ihr schrecklich schmerzhaft.
Der höfliche Junge
Der höfliche Junge klopfte an die Tür. Seine Eltern waren zu beschäftigt mit Streiten, um zu antworten, aber nach eine paar Klopfern trat er trotzdem ein.
»Ein Fehler«, sagte der Vater zur Mutter, »das sind wir, ein Fehler. Wie auf diesen Zeichnungen, die zeigen, wie man was nicht tun soll, ja? So sind wir. Mit einem großen ›NEIN!‹ drunter und einem roten X überm Gesicht.«
»Was willst du, dass ich dir sage?«, sagte die Mutter zum Vater. »Alles, was ich jetzt sage, werde ich nachher ja doch bloß bereuen.«
»Sag’s, sag’s nur«, spuckte der Vater, »warum denn bis nachher warten, wenn du gleich jetzt schon bereuen kannst?«
Der höfliche Junge hatte ein Modellflugzeug in der Hand. Er hatte es ganz allein gebaut. Die Anleitungsseite, die der Verpackung beilag, war in einer Sprache, die er nicht verstand, jedoch mit klaren Skizzen und Pfeilen, und der höfliche Junge, von dem sein Vater immer sagte, er habe gute Hände, hatte es geschafft, das Modell danach zu bauen, ohne weitere Hilfe.
»Früher hab ich mal gelacht«, sagte die Mutter, »viel gelacht, jeden Tag. Aber jetzt …« Sie strich über das Haar des höflichen Jungen, ohne sich dessen auch nur im mindesten bewusst zu sein. »Jetzt nicht mehr. Das war’s.«
»Das war’s?«, röhrte der Vater. »Das war alles? Das war das, was ›ich nachher bereuen werde‹? ›Früher hab ich mal gelacht‹? Big fucking deal!«
»Ich bitte dich, Ido, hör auf«, sagte die Mutter.
»Was aufhören?«, fragte der Vater.
»Solchen Schmutz in den Mund zu nehmen vor dem Jungen«, flüsterte die Mutter.
»Das ist kein Fluchen«, winkte der Vater ab, »und es ist Englisch. Er kann kein Englisch.«
»Was für ein schönes Flugzeug«, bemerkte die Mutter und wandte ihren Blick demonstrativ vom Vater ab, »vielleicht gehst du raus und spielst ein bisschen damit?«
»Erlaubt ihr es?«, fragte der höfliche Junge.
»Aber sicher erlauben wir’s«, lächelte die Mutter und strich ihm wieder übers Haar, so wie man den Kopf eines Hundes streichelt.
»Wann soll ich zurück sein?«, fragte der höfliche Junge.
»Wann du willst«, explodierte der Vater, »und wenn’s dir da draußen gefällt, kannst du auch gleich gar nicht mehr zurückkommen, ruf bloß alle paar Dingens mal an, damit sich Mama keine Sorgen macht.«
Die Mutter stand auf und gab dem Vater mit voller Kraft eine Ohrfeige. Es war komisch, denn es schien, dass diese Ohrfeige den Vater nur freute, während ausgerechnet die Mutter zu weinen anfing.
»Na, geh schon«, sagte sie unter Tränen zu dem höflichen Jungen, »geh schon spielen, solang es noch hell ist. Aber komm heim, bevor es dunkel wird.« Vielleicht ist sein Gesicht hart wie Stein, dachte sich der höfliche Junge, als er die Treppen hinunterging, und deshalb tut einem die Hand weh, wenn man hinhaut.
Der höfliche Junge warf sein Modellflugzeug mit aller Kraft hoch. Der Flieger drehte eine Schleife in der Luft und taumelte noch parallel zum Boden dahin, bis er gegen einen Wasseranschluss rumpelte. Sein einer Flügel war ein bisschen verbogen, und der höfliche Junge bemühte sich, ihn wieder zu begradigen.
»Wow«, sagte ein rothaariges Mädchen, das er bisher nicht bemerkt hatte, und streckte ihre sommersprossige Hand in seine Richtung aus. »Was für ein irres Flugzeug. Ich will’s auch mal fliegen lassen.«
»Das ist kein Flugzeug«, korrigierte sie der höfliche Junge, »das ist ein Modellflieger. Ein
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