Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Flugzeug ist was mit Motor.«
»Los, gib schon her«, befahl das Mädchen, ohne die Hand sinken zu lassen, »sei kein Knicker.«
»Ich muss ihm erst den Flügel richten«, wich der höfliche Junge aus, »siehst du nicht, dass er verbogen ist?«
»Knickerkragen«, gab das rothaarige Mädchen zurück, »gebe Gott, dass dir ganz viele schlimme Sachen passieren.« Sie runzelte die Stirn in dem Versuch, sich etwas weniger Allgemeines auszudenken, und als sie es schließlich geschafft hatte, grinste sie: »Dass dein Mama stirbt. Das isses, dasse stirbt, amen.« Der höfliche Junge ignorierte sie, haargenau wie man es ihm zu tun beigebracht hatte. Er war einen Kopf größer als die Rothaarige, und wenn er gewollt hätte, hätte er ihr eine Ohrfeige geben können, was dem rothaarigen Mädchen sehr wehgetan hätte, viel mehr als ihm, denn ihr Gesicht war hundertprozentig nicht aus Stein. Aber er gab ihr keine Ohrfeige, trat sie auch nicht und warf keinen Stein. Er verfluchte sie nicht einmal im Gegenzug. Er war höflich.
»Und dass auch dein Papa stirbt und du selber auch«, fügte die Rothaarige hinzu, als habe sie sich gerade noch daran erinnert, »aus, Äpfel, amen.« Und damit ging sie weg.
Der höfliche Junge warf den Flieger noch ein paarmal hoch. Beim gelungensten Wurf drehte das Modell drei komplette Schleifen in der Luft, bevor es herunterfiel. Auch die Sonne über ihm begann nun zu fallen, und der Himmel ringsherum rötete sich zunehmend. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, wenn man lange Zeit kontinuierlich in die Sonne schaue, könne man blind werden, und deswegen achtete der höfliche Junge darauf, alle paar Sekunden die Augen zu schließen. Aber auch wenn er die Augen geschlossen hatte, sah er weiterhin das Rot des Himmels. Das war seltsam, und der höfliche Junge hätte das nur zu gerne noch ein bisschen erforscht, um es zu verstehen, aber er wusste auch, wenn er nicht rechtzeitig nach Hause käme, würde sich seine Mutter Sorgen machen. Die Sonne scheint jeden Tag, dachte sich der höfliche Junge und bückte sich, um das Modellflugzeug aus dem Gras aufzuheben, und ich komme nie zu spät.
Als der höfliche Junge nach Hause kam, hielt sich seine Mutter immer noch die Hand und weinte im Wohnzimmer. Sein Vater war nicht dort. Seine Mutter sagte, er sei in ihrem Zimmer und schlafe, denn er müsse eine Nachtschicht machen, und ging, um dem höflichen Jungen ein Abendomelette zuzubereiten. Der höfliche Junge drückte leicht gegen die Tür des Zimmers seiner Eltern, die nicht ganz geschlossen war. Auf dem Bett lag sein Vater mit Straßenkleidern und Schuhen. Er lag auf dem Bauch, mit offenen Augen, und als der höfliche Junge hineinspähte, fragte er, ohne den Kopf vom Bett zu heben: »Wie ist der Flieger?«
»In Ordnung«, antwortete der höfliche Junge, und da er das Gefühl hatte, dass das Gesagte nicht ausreichte, fügte er hinzu: »Völlig in Ordnung.«
»Ich und Mama streiten manchmal und sagen Dinge, die beleidigen«, sagte sein Vater, »aber du weißt, dass egal, was gesagt wird, ich dich immer immer liebe, stimmt’s?«
»Ja«, nickte der höfliche Junge und begann, die Tür hinter sich zuzuziehen, »ich weiß. Danke.«
Mystique
Der Mann, der wusste, was ich sagen würde, saß neben mir im Flugzeug und lächelte dumm. Das war es, was einen an ihm so rasend machte, die Tatsache, dass er nicht einmal klug war oder sensibel und es trotzdem fertigbrachte, sie zu sagen, die ganzen Worte, die ich sagen wollte, immer drei Sekunden vor mir.
»Haben Sie Mystique von Guerlain?«, fragte er die Stewardess einen Moment, bevor ich dazu kam, und sie lächelte mit ebenmäßigen Zähnen und sagte, es sei exakt noch ein letztes übrig. »Meine Frau ist ganz versessen auf dieses Parfüm. Schlicht süchtig danach. Wenn ich aus dem Ausland ohne eine Flasche Mystique vom Duty Free zurückkomme, sagt sie, ich liebe sie nicht mehr. Wenn ich es wage, ohne wenigstens eine davon zur Tür reinzukommen, dann hab ich echt ein Problem.« Das war die Zeile, die ich hätte sagen sollen, doch der Mann, der wusste, was ich sagen würde, stahl sie mir, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Als die Räder des Flugzeugs die Landebahn berührten, schaltete er das Mobiltelefon ein, eine Sekunde vor mir, und rief seine Frau an. »Ich bin gelandet«, sagte er zu ihr. »Es tut mir leid. Ich weiß, es hätte gestern sein sollen, der Flug ist gestrichen worden. Du glaubst mir nicht? Du kannst es selber nachprüfen. Ruf Arik an. Ich
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