Ploetzlich Shakespeare
könnten Essex und Shakespeare doch in der Vergangenheit füreinander bestimmt gewesen sein. So hoffte ich jetzt jedenfalls. Und wenn meine Hoffnung nicht trog und es wirklich kein Irrtum war, dass die Seelen von Jan und mir zusammengehörten ... würde das bedeuten, dass Anne ein Irrtum von Shakespeare war. Daher erklärte ich: «Ich würde dennoch gerne zu der Hochzeit fahren.»
«Weswegen? Der Bräutigam dort ist nicht für dich bestimmt, sondern für die Gräfin Maria!»
«Vielleicht ist er es aber doch», hielt ich dagegen.
«Nein, auf gar keinen Fall!»
«Na ja, es könnte doch sein...», sagte ich tapfer, «dass Anne nicht die für dich bestimmte Frau war. Sondern Essex der für dich bestimmte Mann.»
«Dies ist eine ebenso absurde wie widerliche Feststellung, Rosa! Wir beide mögen zwar ein und dieselbe Seele besitzen, aber dein Geist ist von mickriger Natur.»
«Was ist mein Geist?» Nun wurde ich auch sauer.
«Von ähnlich klagenswertem Zustand wie deine Brüste!»
«Vielleicht machst du dir doch auch nur etwas vor», hielt ich stinkig dagegen. «Irgendetwas ist doch mit Anne und dir geschehen, sonst hättest du keine Schuld auf dich geladen. So toll kann das also zwischen euch beiden nicht gewesen sein!»
«Du weißt nicht, was du da redest!», schimpfte ich. Es erzürnte mich dabei nicht so sehr, dass Rosa eine quere Liebe zwischen mir und Essexfür möglich hielt, indes machte es mich maßlos wütend, dass sie meine Liebe zu Anne in den Schmutz zog.
«Dann sag es mir doch einfach», forderte ich ihn heraus, «was ist denn zwischen Anne und dir passiert?»
«Sei endlich still, du verfluchtes Ding!», schnaubte ich wutbebend.
«Ich denke gar nicht daran!»
«Jetzt wünschte ich mir doch, dass Dee mit seiner Warnung recht gehabt hätte», platzte es aus mir heraus.
«Was für eine Warnung?», fragte ich irritiert.
«Dee hatte erklärt, dass dein Geist bei der Prozedur mit dem Pendel womöglich ausgelöscht werden könnte. Aber leider war dies nun mal nicht der Fall!»
«Du... du hättest meinen Geist ausgelöscht?! ?»Ich konnte es nicht fassen und fühlte mich von ihm verraten und verkauft. Wir beide schwiegen uns nun wütend an. Dann erklärte Shakespeare:
«Ich werde dir beweisen, dass Essex und du nicht füreinander bestimmt seid! Und zu diesem Zwecke fahren wir zu dieser Hochzeit!»
50
Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, schwieg die verblüffte Rosa. Ich ging wieder zurück ins Wohnzimmer zu ihrem Kumpan. In seiner Anmutung erinnerte dieser Mann mich an Kempe. Vermutlich, so folgerte ich daraus, wanderten auch befreundete Seelen gemeinsam durch die Jahrhunderte. Dies war tröstlich. Ob Gott für so etwas verantwortlich war? Oder hatte die Natur unseren Seelen eine Lebensenergie verliehen, die ewig währte?
Ja, dies klang einleuchtend. Mir war es schon immer leichter gefallen, an die Kraft der Natur zu glauben als an einen Gott. Es gab halt mehr zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit erträumt - das hatte mir schon mein Freund Kempe gesagt, als er mir dieses Buch aus den fernen Ländern zeigte, namens Kamasutra.
Während Rosa sich nach unserem Streit offensichtlich entschlossen hatte, beleidigt zu schweigen, führte der Dicke mich aus dem Haus heraus. Holgi, wie der dicke Wiedergänger von Kempe hieß, ließ mich nun in eines der fremdartigen Geschosse einsteigen, das er selbst merkwürdigerweise als bezeichnete, obwohl es mit einer solchen keinerlei Ähnlichkeit besaß.
Kaum hatte Holgi - was war das überhaupt für ein Name? - einen Schlüssel in ein Schloss gesteckt, raste es auch schon wie von Zauberhand los und sauste mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die fremden Straßen. Auffälliger jedoch als alle Geschosse war die Tatsache, dass es auf ihnen unendlich viele betagte Menschen gab. Wie alt mochten diese Personen hier an Jahren sein? Sechzig ... einhundert... zweihundert fahre? Und wenn die Menschen hier so alt werden konnten, warum nur sahen die meisten, selbst die jungen, so viel unglücklicher aus als die Menschen in meinem London? Wussten sie nicht, wie reichhaltig sie das Leben an Jahren beschenkte? Warum waren sie nicht dankbar dafür?
War ihr Leben durch all die Geschosse und Zaubergeräte zu beschleunigt, dass sie ihr Glück nicht wahrnehmen konnten? Würde ich, wenn ich an ihrer Stelle leben würde, auch vor lauter Traurigkeit in Schachteln reden?
Im Kontrast zu den tristen Gesichtern hingen an so gut wie jeder Ecke
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